Negativ und Positiv, Virus und Anti-Virus

Ältere (so wie ich) erinnern sich noch gut. Da gab es Zeiten, da wurde für Bildaufnahmen Zelluloid verwendet. Das nannte man Film. Und zunächst entstand nach der Aufnahme und der Fixierung ein Negativ. D.h., alles war umgekehrt zu sehen: Schwarz war weiß und umgekehrt, und nach der Erfindung des Farbfilmes sah man auch die Farben „spiegelverkehrt“. Erst nach einem weiteren Schritt wurde daraus ein Positiv, man sah ein Bild, einen Film, wie gewohnt. Also so z.B.:

Negativ:        

Positiv:

Zur Zeit frage ich mich bisweilen: Was für ein Film läuft da gerade ab? Sitze ich im falschen?

Doch es ist natürlich. Ein Virus will leben und nutzt uns dazu. Aber wir wollen auch leben und versuchen, dem irgendwie gewachsen zu werden.

Ein Virus befällt Milliardenfach einen Menschen, und es kommt ihm nicht darauf an, ob ein paar Milliarden einzelne Viren dabei umkommen.

Wir Menschen könnten nun als Menschheit (wie vermutlich Fledermäuse als immune erstüberträger) ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende  abwarten, bis wir gelernt haben, mit diesen Virus im Körper zu leben. Vielleicht, wie in der bisherigen Jahrhunderttausende währenden Vergangenheit sogar gut zu leben. Ja, mancher Virus, einst unheilbringend, hat sich in uns so eingenistet, dass er uns sogar nützt.

Aber dafür müssten uns Einzelschicksale egal sein. Sind sie aber nicht. Für uns Menschen ist jedes Leben wertvoll und rettenswert, so gut wir es vermögen. Das ist auch gut biblisch-christlich.

Forscher sind sich immer noch unschlüssig, was denn ein Virus eigentlich ist. Viele konstatieren: Ein Virus ist eben ein Virus, nicht vergleichbar mit anderen Lebensformen. Allerdings habe ich in der Fachliteratur auch gelesen: Was wir als Viren bezeichnen, sind lediglich Erbgutüberträger. Samen sozusagen. Gemeinerweise (und anders als Bakterien oder Schmarotzer) dringt das Erbgut in eine Zelle ein und verwandelt diese zelle in das eigentliche lebendige Virus. Die Zelle produziert nun weitere „Samen“ = Viren. Und so, wie z.B. bei einer Mohnblume dann die reife Kapsel aufspringt und danach die Pflanze vergeht, so springt die Zelle auf und schleudert weitere Millionen und mehr „Viren“ in die Umgebung. Auf dass sich weitere Zellen verwandeln in Virenproduktionsanlagen.

Wenn ich also von einem Virus befallen werde, wird ein Teil meines Körpers, also alle befallenen Zellen, zum „Virus“ – und das bin nicht mehr „Ich“. Sondern ich trage in mir einen bisweilen (und bei Covid-19 ist es so) lebensgefährlichen Feind. Den ich mit aller Macht und Hilfe hoffentlich wieder loswerde. Auch mithilfe der Abwehrkräfte – und einer guten Medizin. Die aber erst noch gefunden werden muss. Denn ich will leben. Wie du und alle anderen zählt mein Leben doch, oder? Das Gemeine: So ein Virus kehrt wieder, in mutierter Form und macht es dann erneut schwer.

So kurz, so weit, so natürlich, so negativ.


Und nun für mich wunderbar positiv: Heute ist der Gedenktag an einen Teil der Vorweihnachtsgeschichte.

Der Erzengel Gabriel kommt zu einer jungen, unverheirateten, aber wohl liierten Frau Maria und verkündet ihr, durch die Kraft des Hlg. Geistes (also Gottes) würde sie schwanger gehen, neues Leben in sich tragen, und daraus würde „Jesus“, der Messias seines Volkes, der Heiland aller Völker.

Das ist nachzulesen in Lukas 1, 26-38, und der Gedenktag heute heißt darum „Verkündigung des Herrn“, auch „Maria Verkündigung“.

Und da wird ein Positiv aus dem Negativ. Ein anderes Bild vom Leben zeichnet sich ab.

Wir werden „befallen“, „infiziert“, aber nun nicht von einem mutierten Virus milliardenfach, sondern von dem einen Gott. Unwandelbar in einer seiner Haupteigenschaften: Seiner Liebe. Nicht der „liebe“ Gott, der gefälligst so zu sein hat, wie wir ihn gerne hätten, sondern der Gott der Liebe, der überwältigend anders ist. Allmächtig in Ohnmacht, gegenwärtig da, wo er abwesend ist.

Dieser Gott, verliebt in unsere Welt, verliebt in uns Menschen, der „infiziert“ einzelne Menschen. Sie finden sich als sein Volk wieder und „brüten“ unter sich seine Weisheit, seine Gebote, seine Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Mitmenschlichkeit aus. Davon zeugt der erste Teil der Bibel, davon zeugt Israel.

Und dieser Gott begibt sich ganz in unser Menschsein, infiziert die Menschheit mit sich selbst. Um ganz zu sich zu kommen. Um ganz da zu sein, auch bis in die letzte Phase eines Lebens: Den Tod. Dieser Infektionsweg heißt für uns Christen: Der Mensch Jesus. Der wiederum nach seinem Tod als Lebendiger andere Menschen mit sich infiziert. Die nennen sich dann Christen. Ein Infektionsweg: Die Taufe in seinem Namen, und jeder Gottesdienst sozusagen eine Auffrischung.

In jedem kommt Gott zu sich selbst – und damit findet ein Mensch zu sich selbst als Kind Gottes. Und kann in jedem anderen das sehen. Und sich entsprechend verhalten. Mit-menschlich eben.

Freilich bedeutet das Abschied von alten Gottesbildern, mit denen Menschen infiziert sind. Und nun geheilt werden. Da ist kein Allmächtiger, der dann eingreift, wenn wir mit unserer Weisheit am Ende sind. Oder da, wo wir feststellen müssen, wie sehr wir ein Teil dieser Natur sind (und auch das macht so eine Pandemie gnadenlos deutlich). Da ist kein „lieber Gott“. Dafür ist in jedem ein Gott der Liebe, ein Mensch wie Jesus, und so wächst in einem Christen eine ganze Verantwortung für andere. Zugleich fühlt er sich über alles geliebt und gehalten, braucht deswegen keine dauernde Wertschätzung von anderen, sondern hat ein gesundes Selbstwertgefühl, um demütig mutig mit anderen umzugehen und zugleich sorgsam mit sich selbst. Also: Gottes Weg der Liebe über alles zu respektieren und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das funktioniert auch da, wo man mal mit Abstand am besten miteinander umgeht.

Ich schrieb von „befallen“ und „Infektion“ – traditionell und vermutlich auch besser nennt man es „Begabung“ und „Inspiration“. Ich erlebe, wie viele Mitmenschen, auch solche, die anderer Weltanschauung sind, in diesem Sinne begabt und inspiriert sind. Die vernünftig die Gebote der Stunde und Wochen befolgen und zugleich solidarisch ihre Hilfe anbieten, wo und wie sie können. Die mit Mitgefühl für andere sorgen, und sei es, dass sie schlicht Rücksicht auf andere nehmen, etwa beim Einkauf oder Spazierengehen.

Die Geschichte vom heutigen Tage aus dem Lukasevangelium ist ein Bild für das Gemeinte. Es geht nicht (allein) darum, ob und wie Maria ohne Zutun des Joseph schwanger wurde. Im Bild geht es darum, wie Gott mit seiner dann so verletzlichen und zugleich lebensstarken Menschlichkeit  sich mit sich selbstuns begabt und inspiriert – und das nicht wider Willen, sondern im ganzen Respekt vor unserer Freiheit. Wir können auch „Nein“ sagen. Oder eben wie Maria: Ja, mein Gott, mit dir und deiner Liebe zu allem will ich schwanger gehen, denn dadurch finde ich zu mir selbst und dem Sinn meines Lebens. Was auch immer kommt.

Der Mystiker Meister Eckart drückte es so aus:

Ich in dir
Du in mir
Wir bin eins.

Dazu aus dem „Evangelischen Lebensbegleiter“ (Gütersloh 2007)
ein Gebet:

Heute, mein Gott,
verkündet dein Engel
Deinen Weg in unser Leben.
Heute kommst du herab zu uns,
nimmst dich unsrer Schwachheit an
wirst Mensch.

Heute, mein Gott,
sprich dich hinein in mein Leben,
vertraue Dich mir an.

Heute, mein Gott,
erwähle mich zu deiner Wohnung,
Mensch zu werden
in Dir.

So besehen sitzen wir im richtigen Film, auch wenn uns die Wirklichkeit irgendwie verkehrt vorkommt.

Gott befohlen
Ihr
Michael Neugber