Der Grund aller Welten und die Weltepidemie Covid 19: (K)eine (Straf-) Aktion??? Gedanken zum Sonntag Judika „ Richte mich, Gott, nach deiner Gerechtigkeit“

Vorweg gesagt: was wir jetzt erleben, ist ein Naturereignis ist ein Naturereignis ist ein Naturereignis.

Trotzdem geistern ausgesprochen oder unausgesprochen insgeheim die Idee: Gott könnte doch, weil die Menschen…

Könnte vielleicht.

Ich frage zurück bei der biblischen Überlieferung.

Da wird die Sintflutgeschichte als globale Katastrophe erzählt.

Eine Geschichte (!!!) vom Schwur Gottes: Mein Lebensbund gilt. Nie wieder, solange die Erde sich dreht.

Übrigens geht es bei der Geschichte um die Frage: Was, wenn Gott wieder das ursprüngliche lebensfeindliche Chaos herrschen lässt, also seine Schöpfung auf den Nullpunkt resettet?

Tut er aber nicht. Schon gar nicht wegen der Menschen. Die sind nun mal, wie sie sind: Wunderbar geliebt und teuflisch schlecht drauf. 

Also sollte, wenn wir die Bibel ernst nehmen, in unserem Nachdenken über Gott und die Welt kein Platz sein für die Idee, mit Covod 19 wolle Gott die Menschen zu etwas zwingen, gar strafen.

In der Bibel finden sich, oft in den Psalmen, Aussagen, Gott möge sogenannte Sünder und Frevler strafen und Feinde des Gottes Volkes vernichte – also die Gemeinschaft der Gerechten vor weiterem Unheil bewahren. Dabei geht es durchaus für uns abschreckend handfest zu, handgreiflich massiv.

Am Bekanntesten sind wohl die 10 Ägyptischen Plagen, darunter auch Seuchen. Doch die sind nicht global, sondern gezielt. Und der Zusammenhang muss gesehen werden: Ägypten ist ein Bild für all das, was Gottes Volk knechtet und behindert, einander und Gott gerecht zu leben. Somit sind die Plagen ein Bild für das, womit Unfreiheit und Gewalt etc. beendet wird. 

Den 10 Plagen stehen dann die 10 Gebote gegenüber, und darauf kommt es an: Letztlich schickt Gott keine Plagen, sondern seine Weisheit: Wie werden Menschen Gott und einander gerecht?

Im Gefolge biblischer Erzählung, die sich über mehrere biblische Bücher und Generationen hinzieht, wird die Vorstellung von einem ANDERE, gar GLOBAL strafenden Gott abgelöst von der Vorstellung von einem Gott, der zum Zeichen seiner Liebe und Weisheit ein Volk mit seinen Weisungen begabt.

Also: Auf andere zeigen und sagen: Das habt ihr nun davon: Gilt nicht.

Dennoch wagten nach der politischen Katastrophe – Israel und Judaverschwanden von der Landkarte, aufgerieben im Streit zwischen den damaligen Großmächten – zuerst einzelne und dann immer mehr im Volk folgenden Gedanken:

Was wäre, wenn wir selbst schuld an unserem Schicksal sind?

Wenn dahinter ein Gott aller Welten steht, der uns damit ein Zeichen gesetzt hat, wie verkehrt und gottlos wir gelebt haben?

Wenn Gott dahinter steht – dann dazu, um uns zurecht zu richten. Dann sind wir nicht blindwütigem Schicksal ausgeliefert, dann haben wir eine Adresse, an die wir uns wenden können, selbstehrlich und zugleich vertrauensvoll.

Ziel ist es, umzukehren zu einer Gott und den Menschen gerechten Lebensweise: Liebe Gott mit allem, was du bist und deinen Nächsten wie dich selbst. Diese Zusammenfassung aller zukunftdienlichenGebote verdankt sich jener Zeit.

Schlom ben Chorin (ein Jude) hat es um 1950 so formuliert, und es wurde ein Lied in unserem evangelischen Gesangbuch (Nr. 237):

1. Und suchst du meine Sünde,
flieh ich von dir zu dir,
Ursprung, in den ich münde,
du fern und nah bei mir.

2. Wie ich mich wend und drehe,
geh ich von dir zu dir;
die Ferne und die Nähe
sind aufgehoben hier.

3. Von dir zu dir mein Schreiten,
mein Weg und meine Ruh,
Gericht und Gnad, die beiden
bist du – und immer du.

Hinter Menschengeschichte Gott suchen und aufsuchen – das ist kein Finger auf andere, sondern ein wahrhaft kreativer Akt eines Menschen für sich persönlich und im Dialog mit anderen, mit Glaubensgenossen, mit Volksgenossen vielleicht für eine Gruppe.

Also wäre für mich die Frage:

Was lehrt uns diese Zeit? Und hilft uns, Gottes Willen zum Leben neu wahrzunehmen, von verkehrten Lebensstilen umzukehren, neu zu lernen, was wirklich Zukunft in sich trägt? Das frage ich mich persönlich und dann natürlich möchte ich auch gerne mit anderen darüber sprechen. Aber nicht belehrend, sondern fragend, hörend, lernend.

Und hoffe: Da ist dann Gott mit dabei von der Partie. Also da, wo in diesen Tagen neu entdeckt wird, wie Solidarität aller mit allen (!!!) die Grundlage für Demokratie, Freiheit, Frieden und damit für die unbedingte Menschenwürde jedes einzelnen sind. 

Diese Solidarität auch mit der ganzen Schöpfung werden wir noch dringend brauchen, denn diese Welt soll nicht untergehen, sondern um Gottes willen zu gutem Ziel kommen.

Da sind wir also immer neu gefragt.

Fazit: Auch hier hat ein Virus als gottgeschickt, gar als Strafe, keinen Platz. Es bleibt ein Naturereignis.

Und schließlich:

Jesus heilte einmal einen von Geburt an Lahmen. Dem war unterstellt worden, seine Eltern wären große Sünder gewesen.

Jesus lehnt diese Vorstellung radikal ab. Dann sagt er etwas merkwürdiges: Der Mensch soll heil werden, damit Gottes Herrlichkeit auf Erden aufscheine.

Der Blick Jesu geht völlig in andere Richtung: Überall, wo etwas heil wird, werden Zeichen gesetzt, was der ganzen Schöpfung blühen soll: endlich gut sein. Endlich in Frieden sein. Endlich gerecht. Die Johannesapokalpyse beschreibt das drastisch: alles alte, teuflisch Dunkle vergeht, wie neugeboren: Lebenswelt und Gott mitten drin. Das ganze so dramatisch wie die Totalverwandlung einer Raupe in einen Schmetterling (das ist mein Bild).

D.h., nicht eine Seuche ist gesandt, schon gar nicht als Strafe, die dann auch Unschuldige trifft, sondern wir sind gottgesandt, um zu helfen und einander beizustehen, um der Kraft zur Heilung unter uns Raum zu geben und – auch das, um klagend und trauernd und zugleich hoffend Gestorbene in Menschenwürde zu verabschieden.

Was die Idee einer Seuche oder eines anderen Ereignisses als „Strafe“ oder Tat Gottes endgültig verbietet: 

Jesu Kreuz.

Seit Jesu Kreuz denken wir mehr oder weniger überzeugend nach, wie man dieses Geheimnis, diesen Grund einer endgültigen neuen Liebesbeziehung zwischen Gott und aller Welt am Besten in Worte fassen kann.

Ein Versuch ist:

Jesus versöhnt damit Gott mit uns. Alle „Sünde“ ist damit vergeben.

D.h. im Klartext: Es kann, wenn wir Karfreitag (beglaubigt durch Ostern) ernst nehmen, keine Rede mehr davon sein, dass Gott auf diese Weise agiert, gar straft, wen auch immer.

Ich kann Gott klagen, ich kann ihn fragen, ich kann auf ihn hoffen – und kann mich ermutigen lassen, soviel es an mir liegt und wie ich kann, Betroffenen beizustehen. Oder zulassen, dass andere mir Beistand leisten (das ist ja bisweilen auch schwer).

Und so bleibt eine Pandemie ein Naturereignis ein Naturereignis ein Naturereignis und , wie ich glaube (auch wenn ich mit der Jahreslosung oft rufe: Ich glaube, hilf meinem Unglauben): Gott richtet uns auf und her zu Mitmenschlichkeit. Immer neu. Damit wir solche schweren Zeiten besser bestehen.

Damit ein Naturereignis Raum gibt für heilere Zukunft.

Zuletzt noch ein Gedanke:

Wenn Gott diese Welt ganz und gar liebt, so dass wir sie als Schöpfung wahrnehmen, ist auch ein Virus ein Geschöpf.
Wie alles andere auch.

Und darüber muss ich jetzt erst noch ganz viel nachdenken.

Gott befohlen
Ihr
Pfr. Neugber

Negativ und Positiv, Virus und Anti-Virus

Ältere (so wie ich) erinnern sich noch gut. Da gab es Zeiten, da wurde für Bildaufnahmen Zelluloid verwendet. Das nannte man Film. Und zunächst entstand nach der Aufnahme und der Fixierung ein Negativ. D.h., alles war umgekehrt zu sehen: Schwarz war weiß und umgekehrt, und nach der Erfindung des Farbfilmes sah man auch die Farben „spiegelverkehrt“. Erst nach einem weiteren Schritt wurde daraus ein Positiv, man sah ein Bild, einen Film, wie gewohnt. Also so z.B.:

Negativ:        

Positiv:

Zur Zeit frage ich mich bisweilen: Was für ein Film läuft da gerade ab? Sitze ich im falschen?

Doch es ist natürlich. Ein Virus will leben und nutzt uns dazu. Aber wir wollen auch leben und versuchen, dem irgendwie gewachsen zu werden.

Ein Virus befällt Milliardenfach einen Menschen, und es kommt ihm nicht darauf an, ob ein paar Milliarden einzelne Viren dabei umkommen.

Wir Menschen könnten nun als Menschheit (wie vermutlich Fledermäuse als immune erstüberträger) ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende  abwarten, bis wir gelernt haben, mit diesen Virus im Körper zu leben. Vielleicht, wie in der bisherigen Jahrhunderttausende währenden Vergangenheit sogar gut zu leben. Ja, mancher Virus, einst unheilbringend, hat sich in uns so eingenistet, dass er uns sogar nützt.

Aber dafür müssten uns Einzelschicksale egal sein. Sind sie aber nicht. Für uns Menschen ist jedes Leben wertvoll und rettenswert, so gut wir es vermögen. Das ist auch gut biblisch-christlich.

Forscher sind sich immer noch unschlüssig, was denn ein Virus eigentlich ist. Viele konstatieren: Ein Virus ist eben ein Virus, nicht vergleichbar mit anderen Lebensformen. Allerdings habe ich in der Fachliteratur auch gelesen: Was wir als Viren bezeichnen, sind lediglich Erbgutüberträger. Samen sozusagen. Gemeinerweise (und anders als Bakterien oder Schmarotzer) dringt das Erbgut in eine Zelle ein und verwandelt diese zelle in das eigentliche lebendige Virus. Die Zelle produziert nun weitere „Samen“ = Viren. Und so, wie z.B. bei einer Mohnblume dann die reife Kapsel aufspringt und danach die Pflanze vergeht, so springt die Zelle auf und schleudert weitere Millionen und mehr „Viren“ in die Umgebung. Auf dass sich weitere Zellen verwandeln in Virenproduktionsanlagen.

Wenn ich also von einem Virus befallen werde, wird ein Teil meines Körpers, also alle befallenen Zellen, zum „Virus“ – und das bin nicht mehr „Ich“. Sondern ich trage in mir einen bisweilen (und bei Covid-19 ist es so) lebensgefährlichen Feind. Den ich mit aller Macht und Hilfe hoffentlich wieder loswerde. Auch mithilfe der Abwehrkräfte – und einer guten Medizin. Die aber erst noch gefunden werden muss. Denn ich will leben. Wie du und alle anderen zählt mein Leben doch, oder? Das Gemeine: So ein Virus kehrt wieder, in mutierter Form und macht es dann erneut schwer.

So kurz, so weit, so natürlich, so negativ.


Und nun für mich wunderbar positiv: Heute ist der Gedenktag an einen Teil der Vorweihnachtsgeschichte.

Der Erzengel Gabriel kommt zu einer jungen, unverheirateten, aber wohl liierten Frau Maria und verkündet ihr, durch die Kraft des Hlg. Geistes (also Gottes) würde sie schwanger gehen, neues Leben in sich tragen, und daraus würde „Jesus“, der Messias seines Volkes, der Heiland aller Völker.

Das ist nachzulesen in Lukas 1, 26-38, und der Gedenktag heute heißt darum „Verkündigung des Herrn“, auch „Maria Verkündigung“.

Und da wird ein Positiv aus dem Negativ. Ein anderes Bild vom Leben zeichnet sich ab.

Wir werden „befallen“, „infiziert“, aber nun nicht von einem mutierten Virus milliardenfach, sondern von dem einen Gott. Unwandelbar in einer seiner Haupteigenschaften: Seiner Liebe. Nicht der „liebe“ Gott, der gefälligst so zu sein hat, wie wir ihn gerne hätten, sondern der Gott der Liebe, der überwältigend anders ist. Allmächtig in Ohnmacht, gegenwärtig da, wo er abwesend ist.

Dieser Gott, verliebt in unsere Welt, verliebt in uns Menschen, der „infiziert“ einzelne Menschen. Sie finden sich als sein Volk wieder und „brüten“ unter sich seine Weisheit, seine Gebote, seine Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Mitmenschlichkeit aus. Davon zeugt der erste Teil der Bibel, davon zeugt Israel.

Und dieser Gott begibt sich ganz in unser Menschsein, infiziert die Menschheit mit sich selbst. Um ganz zu sich zu kommen. Um ganz da zu sein, auch bis in die letzte Phase eines Lebens: Den Tod. Dieser Infektionsweg heißt für uns Christen: Der Mensch Jesus. Der wiederum nach seinem Tod als Lebendiger andere Menschen mit sich infiziert. Die nennen sich dann Christen. Ein Infektionsweg: Die Taufe in seinem Namen, und jeder Gottesdienst sozusagen eine Auffrischung.

In jedem kommt Gott zu sich selbst – und damit findet ein Mensch zu sich selbst als Kind Gottes. Und kann in jedem anderen das sehen. Und sich entsprechend verhalten. Mit-menschlich eben.

Freilich bedeutet das Abschied von alten Gottesbildern, mit denen Menschen infiziert sind. Und nun geheilt werden. Da ist kein Allmächtiger, der dann eingreift, wenn wir mit unserer Weisheit am Ende sind. Oder da, wo wir feststellen müssen, wie sehr wir ein Teil dieser Natur sind (und auch das macht so eine Pandemie gnadenlos deutlich). Da ist kein „lieber Gott“. Dafür ist in jedem ein Gott der Liebe, ein Mensch wie Jesus, und so wächst in einem Christen eine ganze Verantwortung für andere. Zugleich fühlt er sich über alles geliebt und gehalten, braucht deswegen keine dauernde Wertschätzung von anderen, sondern hat ein gesundes Selbstwertgefühl, um demütig mutig mit anderen umzugehen und zugleich sorgsam mit sich selbst. Also: Gottes Weg der Liebe über alles zu respektieren und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das funktioniert auch da, wo man mal mit Abstand am besten miteinander umgeht.

Ich schrieb von „befallen“ und „Infektion“ – traditionell und vermutlich auch besser nennt man es „Begabung“ und „Inspiration“. Ich erlebe, wie viele Mitmenschen, auch solche, die anderer Weltanschauung sind, in diesem Sinne begabt und inspiriert sind. Die vernünftig die Gebote der Stunde und Wochen befolgen und zugleich solidarisch ihre Hilfe anbieten, wo und wie sie können. Die mit Mitgefühl für andere sorgen, und sei es, dass sie schlicht Rücksicht auf andere nehmen, etwa beim Einkauf oder Spazierengehen.

Die Geschichte vom heutigen Tage aus dem Lukasevangelium ist ein Bild für das Gemeinte. Es geht nicht (allein) darum, ob und wie Maria ohne Zutun des Joseph schwanger wurde. Im Bild geht es darum, wie Gott mit seiner dann so verletzlichen und zugleich lebensstarken Menschlichkeit  sich mit sich selbstuns begabt und inspiriert – und das nicht wider Willen, sondern im ganzen Respekt vor unserer Freiheit. Wir können auch „Nein“ sagen. Oder eben wie Maria: Ja, mein Gott, mit dir und deiner Liebe zu allem will ich schwanger gehen, denn dadurch finde ich zu mir selbst und dem Sinn meines Lebens. Was auch immer kommt.

Der Mystiker Meister Eckart drückte es so aus:

Ich in dir
Du in mir
Wir bin eins.

Dazu aus dem „Evangelischen Lebensbegleiter“ (Gütersloh 2007)
ein Gebet:

Heute, mein Gott,
verkündet dein Engel
Deinen Weg in unser Leben.
Heute kommst du herab zu uns,
nimmst dich unsrer Schwachheit an
wirst Mensch.

Heute, mein Gott,
sprich dich hinein in mein Leben,
vertraue Dich mir an.

Heute, mein Gott,
erwähle mich zu deiner Wohnung,
Mensch zu werden
in Dir.

So besehen sitzen wir im richtigen Film, auch wenn uns die Wirklichkeit irgendwie verkehrt vorkommt.

Gott befohlen
Ihr
Michael Neugber

Am Morgen

War heute morgen
Bei frostig-klarer Luft
Am Klötzlteich.

Blick hinunter
Ins Wasser
Leichtbewegt

Der Wind wars nicht.

Blütenpracht spiegelt sich
Zugleich
Ein Blick wie ins Portemonnaie
Ein paar Kröten nur
Mit zarten Glucksen

Zu wenig

Aber immerhin
Frühlingsgefühle
Unter wirklich blauem Himmel
Unberührt und still

Ein paar Kröten nur

Kleine Hoffnung
Es könnte reichen
Zum Überleben

Nicht ganz freiwillig – Sieben Wochen ohne

Am ersten Sonntag in der Fastenzeit stand ich vor der überraschenden Herausforderung, mit der Gemeinde die Gottesdienste ohne Organist*in zu feiern. Scherzhaft meinte ich zu Beginn: Ich hoffe nicht, dass das nun die diesjährige Fastenaktion in unserer Gemeinde wird: 7 Wochen ohne Organist*in.

Meine Hoffnung trog und aus Scherz wurde betrübliche Wahrheit: 7 Wochen ohne (ungefähr? Gar länger?) ohne Organist, weil ohne Gottesdienst. Christen dürfen wie alle anderen auch nicht mehr zusammenkommen, um zu feiern, was ihnen wichtig ist.

In meiner Studienzeit im letzten Jahr beschäftigte ich mich unter anderem mit Gedanken von Dietrich Bonhoeffer, die er aufschrieb in der Zeit zwischen Schließung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde durch die GeStaPo und seiner Verurteilung zum Tode im Mai 1945.

Als ich heute so ganz allein meine Frischluftrunde drehte (und es ist schon merkwürdig, wirklich allein in der Landschaft unterwegs zu sein), musste ich wieder daran denken. Bonhoeffer gab zu bedenken: Jede*r Christ*in ist auf einmalige Weise berufen, Christi Weg in dieser Welt nach zu folgen. Dafür trägt er/sie persönlich die ganze Verantwortung, so, als ob er/sie allein Christ*in sei in dieser Welt. Christ*in als wirklich menschlicher Mensch für seine Mitmenschen. Findet er eine*n Mitchrist*in, gar mehrere, ist das ein Geschenk! D.h., jede Christengemeinde ist nicht selbstverständlich, sondern ein Geschenk.

Ich bin als Christ*in nicht allein, ich darf mit anderen Kirche Jesu sein. Und so mit allen Menschen, denen grob gesagt „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ am Herzen liegen, wirken, was wirklich Zukunft der Welt in sich trägt (wobei es nicht gilt, die Welt vor allem zu retten. Das bleibt am Ziel aller Zeiten Chefsache).

Wie solche Gemeinde und Kirche dann organisiert ist, ergibt sich aus dem, was nützlich für diese Aufgabe ist.

Aber weil ich mir meine Mitchrist*innen nicht aussuche, sondern geschenkt bekomme, wirke ich nicht in einer Wohlfühlgemeinschaft, sondern in einer Art Team, das Jesus selber zusammen führt. Ich bin gut beraten, andere anzunehmen, wie er mich annimmt mit allen Begabungen und allen Unzulänglichkeiten. Darum ist es gut, miteinander zu beten und gemeinsam aufeinander zu hören – und aufeinander heißt auch: Auf Gott.

Also wie auch immer kleine oder größere Gottesdienste zu feiern. Zuhause, im Freien, in Tagungsstätten – und eben auch in Kirchen.

Und das alles ist nicht selbstverständlich, sondern ein Geschenk, dass es das gibt, wenn es es gibt. Und sich ergibt.

Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass wie selbstverständlich unsere Gottesdienste gefeiert werden, egal, ob und wieviele da mit dabei sind.

Wenn man etwas neu wertschätzen will, tut es gut, darauf eine Zeitlang zu verzichten. Das ist (nicht nur, aber auch) der Sinn der Fastenaktionen. Vielleicht liegt darin ein tieferer Sinn verborgen, dass wir um der Solidarität willen sozusagen „Gottesdienstfasten“. Um zu lernen, dass und wie es ein Geschenk ist.

Und auch dass und wie es ein Geschenk ist, dass dennoch und erst recht auf eine bestimmte Weise und alltäglich Gottesdienst gefeiert wird, ohne viel Gebimmel, ohne Organist*in – aber im Gebet. Da ist so eine Art unsichtbare Gemeinde aus Christ*innen und Nichtchrist*innen im Geiste, über die gebotene Distanz hinweg versammelt im Gedenken an diese Zeit und alle, die sich großen Herausforderungen stellen durch ihr tägliches Tun (das übrigens gerade dadurch nicht alltäglich ist, sondern etwas wirklich Besonderes, ich denke da z.B. an Krankenschwestern).

Alles in Allem geht mir da ein wenig von der Bedeutung der 6. und 7. Strophe jenes bekannten Gedichtes von Bonhoeffer auf:

6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Das Osterlicht leuchtet an Lätare

(von Michael Neugber, im März 2020)

Seit vielen Jahren
Zuhause
bis zur Osternacht
Immer neu gehütet
Dann
Die Osterkerze entzündet
Am Friedenslicht aus Bethlehem
Nun schon
in diesen Zeiten
wieder in unsere Kirche gebracht
Heute
Soll es leuchten
unter dem Kreuz als Gebet.
Bis Ostern
In Leidenszeit – Passion –
Wer es sieht oder daran denkt
Möge beten für wen oder was
Ihm oder ihr am Herzen liegt.
Ich persönlich bete
für ein wundervolles Geschöpf
Es hat sich Gott sei’s geklagt
Zu einer Pandemie entwickelt
Lebensbedrohlich rund um den Globus.
Gebe Gott
Um Jesu willen
dass Weisheit in ihm aufleuchte
verheißungsvoll prophezeit
in wissenschaftlicher Bezeichnung
Homo sapiens sapiens
Darum betet auch für mich.
Wir mögen Frieden suchen
Er breite sich endlich pandemisch aus
So dass wir alle ihn finden
Mit allen Geschöpfen und allem überhaupt.
Und dieser Sonntag heiße zu Recht
Lätare –
Freut euch!
Das Friedenslicht brennt sehnsuchtsvoll
und wartet auf die Osternacht,
bis die Osterkerze sich daran entzündet
mitten im Leid ein Licht auf die Zukunft.

Ein Licht im Fenster

Wenn ein Gebet ein Fenster zum Himmel ist, dann habe ich ein Licht im Fenster stehen. Seit vielen Jahren habe ich mir eine Ecke einrichten können, in der ich morgens meditiere und bete. In Bayern würde man es Herrgottswinkel nennen.

Und es ist ja nicht so, dass man morgens aufwacht und alles in Gedanken und in der Seele ist im Frieden. Im Gegenteil, vielerlei Sorgen und sogar Ängste können da hoch poppen. Und sich in Meditation und Gebet klären, gerade weil man die Aufmerksamkeit auf anderes richtet, auf einen Psalm, einen Text von Weisen oder aus der Bibel, oder sogar nur auf die Stille. Friede kehrt ein. Auch der Friede damit, dass es Widerwärtigkeiten und Schlimmeres im Leben gibt, wo keine Panik hilft, sondern nur Augenmaß und ruhiges Überlegen. Um eben überlegt zu handeln – oder genauso überlegt Dinge einfach anzunehmen.

Seit einigen Jahren hüte ich das Friedenlicht aus Bethlehem bis zu dem Zeitpunkt, wo daran zuerst das Osterfeuer und dann auch die Osterkerze entzündet wirdSo auch dieses Jahr. Es brennt als Gebet, steht im Fenster zum Himmel. Nicht andere sollen es sehen, sondern es soll mir ein Zeichen sein: Nicht (nur) für mich bete ich, sondern eben für all die, die mir da morgens einfallen. Und überhaupt jetzt all die, deren innerer und damit auch äußerer Friede gestört und ins Wanken geraten ist. Die Kerze brennt vor Gott. Denn ich möchte vertrauen: Er hört zu. Und dann lässt er sein Friedenslicht im Herzen anderer aufleuchten, bis es sozusagen zur Osterkerze wird: Menschen stehen auf und stellen sich ihrem Leben – und nehmen sich des Lebens anderer an. Damit Leben aufersteht in eine lichtere Zukunft.

Das Licht von Bethlehem in meinem „Herrgottswinkel“ brennt, auch für die, die ihr Leben hier beenden. Als Zeichen, dass ihr Leben nicht einfach ausgelöscht wird, weil da einer ist, der weiterhin an ihnen brennend interessiert ist, ihr Licht der Liebe, Lebenslicht.

Ostern werden die Kirchen geschlossen sein. Ich hüte das Licht weiterhin und werde daran dennoch die Osterkerze entzünden. Ich folge einfach dem Ratschlag des Apostel Paulus, meine Augen wandern von fettgedrucktem Vers zu fettgedrucktem Vers in der Lutherausgabe der Bibel im 12. Kapitel:

Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden.
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.
Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Wenn ein Gebet ein Fenster zum Himmel ist, dann ist es gut, dass das Friedenslicht mich daran erinnert.

Und dann gäbe es da noch ein Gebet, dass ich in diesem Jahr neu entdeckt habe. Es stammt von Reinhold Niebuhr, verfasst vor gut etwa 80 Jahren:

Gott,
gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Einen Tag nach dem anderen zu leben,
einen Moment nach dem anderen zu genießen.
Entbehrung als einen Weg zum Frieden zu akzeptieren,
sie anzunehmen, wie Jesus es tat:
diese sündige Welt, wie sie ist,
und nicht, wie ich sie gern hätte,
zu vertrauen, dass Du alles richtig machen wirst,
wenn ich mich Deinem Willen bedingungslos ausliefere,
sodass ich in diesem Leben ziemlich glücklich sein möge
und im nächsten Leben für immer überglücklich.
Amen.

Gott befohlen.

Predigt zu Jes.66,10-14 (Lätare 2020 Petterweil)

In Christus geliebte Schwestern und Brüder,

Gnade sei mit euch… 

Bei „Bares für Rares“ wurde ein Bild zum Verkauf angeboten. Es zeigt eine junge Frau, die ihr Kind stillt. Das Auge des Betrachters wird hingelenkt zu der Mutterbrust, an der das Kind saugt.

Der Kunstexperte sagte: Dies Bild sei eine weltliche Version eines alten bekannten Motives: Die Mutter Gottes Maria stillt den kleinen Jesus.

Jahrhunderte lang fühlten sich Menschen den Wechselfällen des Lebens, der Natur, der Willkür der Mächtigen und anderem mehr, etwa Seuchen, ausgeliefert. Sie fragten: „Hat mein armes, kleines Leben überhaupt Sinn?“

Beim Anblick der stillenden Mutter Gottes wurden sie erinnert, was ihnen ein Grundvertrauen ins Leben schenkte: Die Mutterbrust. Da war dieser Moment, wo der Schrei nach Leben, nach Nähe und Geborgenheit erhört wurde. Gestillt im wahrsten Sinne des Wortes. Und mehr noch, wie wir heute wissen: Wenn eine Mutter ihr Kind zur Brust nimmt, schenkt sie dem Kind auch Abwehrkräfte. Das Kind erhält mit der Muttermilch auch Stoffe, die es immun machen gegen bestimmte Krankheiten. Schluckimpfung sozusagen.

Auch Menschen, die solches Glück nur rudimentär erlebten, durften sich beim Betrachten eines solchen Bildes Bildes gleichsam in Jesus hinein versetzen. Sie versenkten sich in das Bild. Ihr Schrei nach Leben, nach Geborgenheit, nach Sinn wurde wenigstens für diesen Moment erhört und ihr Lebenshunger gestillt. Da damals noch viele die meisten Psalmen auswendig kannten, hörten sie in ihrem Herzen auch Gottes Zusage: „Durch die Mutterbrust habe ich dich Vertrauen gelehrt, und selbst, wenn Vater und Mutter ihr Kind alleine ließen – ich bin mit dir. Ich stille deinen Durst nach Leben.“. Wenigstens für eine Zeit wurde ihre Seele geheilt, etwa vor der Angst, an irgendetwas Dunkles, Bedrohliches hoffnungslos ausgeliefert zu sein.

Gestärkt mit Lebensvertrauen, mit dem Gefühl, bei Gott selbst gebogen zu sein, konnten sie wenigstens einen Tag lang bestehen.

Ich vermute, dass der Kunstkenner Pfr. Jörg Zink so ein altes Bild von „Mutter Gottes stillt Jesus“ vor Augen hatte. Das Bild, das bei „Bares für Rares“ angeboten wurde, war auch schon längst gemalt. In seinem Buch „Zwölf Nächte“ schrieb Jörg Zink unter anderem folgendes:

„Eigentlich müsste es möglich sein, die verängstigten und gemütskalten Menschen unserer Tage zu heilen, indem man ihnen gibt, was man einem Säugling gibt. Man müsste sie stillen an einer warmen Brust, man müsste sie im Arm halten und zärtlich streicheln und man müsste ihnen all das nachreichen, was an ihnen versäumt worden ist durch eine spröde Pädagogik, alle die Liebkosungen, alle die Küsse, die ihnen nicht gewährt worden sind, all das freundliche Anschauen, das Liebesspiel und die Worte der Zärtlichkeit. Es ist gut, dass dies heute besser verstanden wird als zu der Zeit, als die Kinder waren, die heute erwachsen sind.“

(Jörg Zink, Zwölf Nächte, Eschbach 1992², S.73)

Jörg Zink sieht eine Ursache, warum Menschen sich so viel Leid antun können, darin: Die, die Leid schaffen, leiden im Grunde selber. Ihnen fehlt dieses göttliche Grundvertrauen, und darum müssen sie ihre Daseinsberechtigung andauern beweisen, in dem sie mit aller Gewalt sich anderer bemächtigen. Sie sind krank im Herzen, und das infiziert auch ihren Verstand mit Vorurteilen, mit Glaube an Verschwörungstheorien, mit der Verwechslung von Fake News und Wahrhaftigkeit und am Ende  mit Hass, der blind macht und dreinschlagen lässt.

Nun kann man als Erwachsener aber nicht einfach wieder wie ein Säugling werden und anfangen, an der Mutterbrust zu saugen.

Der Schweizer Kolumnenschreiber Lorenz Marti, eine Art weltlicher Mystiker, hat mich auf ein Theaterstück von Ludwig Anzengruber aufmerksam gemacht. Es heißt Der Kreuzelschreiber.

„Im Mittelpunkt des Stücks steht Steinklopferhans, ein Querdenker und Außenseiter. Er ist als uneheliches Kind einer Kuhmagd aufgewachsen und musste schon früh in einem Steinbruch hoch oben am Berg arbeiten. Dabei erkrankte er schwer, ohne dass sich jemand um ihn gekümmert hätte. Mit letzten Kräften schleppte er sich auf eine Wiese, legte sich ins Gras und hoffte, nie mehr aufzuwachen. Er schlief ein wie tot.

Als am Abend die Sonne unterging, erwachte Steinklopferhans, und ein unerklärliches Wohlgefühl durchströmte ihn, als ob die Sonne in ihm weiterleuchten würde. Er fühlte sich aufgehoben und erlebte eine allumfassende Geborgenheit. Von diesem Moment an wusste er, dass ihm nichts passieren konnte, wie auch immer die äußeren Umstände sein mochten: „Es kann dir nix g’schehn! – Du g’hörst zu dem all’n, und dös alles g’hört zu dir! Es kann dir nix g’schehn!“

(Gelesen in: Lorenz Marti, Türen auf! Spiritualität für freie Geister, Freiburg im Breisgau 2019, S. 80 – 82 „Ergriffenheit und Einheit“)

Die Fragen an Gott und die Welt und ans Leben und damit Skepsis und Zweifel bleiben. Aber im Hintergrund erklingt als Grundmelodie des Lebens:

„Es kann dir nix g’schehn! – Du g’hörst zu dem all’n, und dös alles g’hört zu dir! Es kann dir nix g’schehn!“

Es kann dir nix geschehen.

Gott nimmt sich sein Volk zur Brust.

Das klingt doppeldeutig und ist auch so gemeint.

Es beschreibt die Grunderfahrung dreier Propheten gleichen Namens: Jesaja 1 bis 3. Deren Worte sind vereint im Buch Jesaja, und dieses Buch hat vielen Menschen neues Vertrauen geschenkt, auch denen, die den Tod eines Mannes ähnlichen Namens verkraften mussten: Jeschua ben Josef min Nazareth, uns bekannt als Jesus Christus.

Jesaja I. verkündete überwiegend: Gott nimmt sich sein Volk zur Brust. Denn da gibt es zuviele, die Gottes Wort als Liebeserklärung auch an die Ärmsten, die Gottes Recht als Lebensrecht der Witwen, Waisen und aller vom Schicksal gebeulten, missachten. Die es ausnutzen und ihr wirtschaftspolitisches und machtpolitisches Süppchen kochen, die Recht verdrehen und ihr eigen Fleisch und Blut ausbeuten.

Tatsächlich brach die Solidarität im Volk zusammen, und die

Weltpolitik damals rollte über Israel hinweg. Viele wurden deportiert, um nun den Interessen der damaligen Großmacht zu dienen. D.h., gerade die Ärmsten hatten wieder mal am meisten zu leiden. Jesaja I. beließ es deshalb nicht bei der anklage: Gott nimmt sich sein Volk lieben zur Brust. Es kann dir nix geschehen. Du gehörst zu ihm, und er zu dir. Freilich, erst einmal mussten alte Gottesbild in den Mülleimer der gnadenlosen Weltgeschichte geworfen werden. Damit ein neues sich entfalten konnte. Gerade in dieser Zeit lernten Israeliten mithilfe vor allem von Jesaja II., Gott als den ganz anderen, alle Welt umgreifenden, als Gott aller Welt zu verstehen und ihm neu zu vertrauen. Dieser große Gott macht sich klein wie ein Knecht, in denen, die ihm vertrauen, wird er da sein und mitgehen durch die Zeit und zu neuer Zukunft in Frieden führen. Menschen werden sich in dieser Welt wieder geborgen finden, ihren Ort im Leben, ihre Heimat im Leben haben. Sogar Glück erleben, das Glück, dass sie befreit sind von den Lasten der Vergangenheit. In Verantwortung für die Lehren der Geschichte werden sie neu füreinander da sein.

Es kann dir nix geschehen – Gott nimmt sich sein Volk zur Brust. Einer der letzten Abschnitte im biblischen Buch Jesaja, Kapitel 66, entfaltet dies Bild:

10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. 11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. 12 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. 13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. 14 Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.

Gott wie eine stillende Mutter. Noch vor der Mutter Gottes Mutter Gott.

Der allumfassend unbegreifliche, fragwürdige und zugleich fraglos wirkliche Gott verortet sich.

Im jesajanischen Sprach- Bild als Stadt Jerusalem.

Der Friede mit allem – „Es wird dir nix geschehen“  – wird konkret. Menschen können an einem Ort diesen Frieden er – leben.

Juden, die irgendwo in der Welt ihre Heimat haben, z.B. bei uns,  gedenken am Passafest der Geschichte der Befreiung aus Ägypten. Sie gedenken, wozu Gott sie eigentlich geschaffen hat, nämlich frei zu sein, Gottes Lebensweisung zu leben und uns von diesem Frieden in der Welt zu künden. Ich habe gehört: Wenn sie dies tun, dann sagen manche am Ende des Festes: „Und nächstes Jahr in Jerusalem“.

Denn dieses Prophetenwort hat sich ja noch nicht erfüllt. Zugleich verströmt es dem, der sich in das Bild „Frau Jerusalem stillt ihre Kinder“ versenkt, als Grundgefühl: „Es kann dir nix geschehen. Du gehörst zu dem da, zu dem allen, zu dem, der alles liebt. Und sich in allem verortet hat.“

Nächstes Jahr in Jerusalem, am Ort des fraglos sinnvollen Lebens, in Frieden mit allem und allen: Alles, was dieser Verheißung näher kommt, schenkt Sinn, sogar den Tränen und den verzweifelten Schreien nach Leben.

Gott nimmt sich seine Menschen zur Brust, in seiner Brust ist alles gut aufgehoben. Auch wegen dieser Botschaft, vermute ich, liegt Juden so viel an dem konkreten Ort Jerusalem.

Christen haben ihnen diesen Ort streitig gemacht. Man denke an die Kreuzzüge.

Dabei wurde übersehen: Für uns ist Jerusalem ein Bild für die Botschaft: Gott verortet sich konkret in dieser Welt – in jedem von uns. Auch der Seher Johannes, der das himmlische Jerusalem auf Erden beschreibt, nutze es in diesem Sinn als Bild für das Leben, das allen (!) blüht (lese: Offenbarung des Johannes, Kapitel 21!)

Wir folgen dem, der vor den Toren Jerusalems gekreuzigt wurde. Sogar durch dieses Dunkel hindurch hat Jesus der Welt sein Licht, Gottes Licht des Frieden aller Welt geschenkt. Ein für alle mal. Das war die Urerfahrung der ersten Christen, die sie weiter gaben: Jesus ist der Ort Gottes in der Weltgeschichte.

Der Jesus, der sagte: „Kommt er zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!“

In Jesus nimmt Gott Menschen an seine liebende Brust.

Und Menschen erleben: Ihr Hunger nach Leben wird gestillt.

Sie erleben, was Gott will. Sie werden regelrecht davon erfüllt.

Und verströmen nun selbst  geduldig Frieden, Versöhnung, Barmherzigkeit – Mitmenschlichkeit. Ihre Angst wird geheilt, Fürsorge mit Vernunft und Verstand, mit Herz und Hand greift Raum. Sie werden immunisiert gegen den Virus „Verschwörungstheorie“, dafür haben sie den Mut, harten Fakten ins Gesicht zu sehen und damit verständnisreich umzugehen. Aus dem Irrglaube an angeblich gesicherte absolute Wahrheiten, die sich oft, zu oft als Fake News entpuppen, die trotzdem weiterhin  geteilt und geglaubt werden, wird ein achtsames Hören auf wirklich vertrauenswürdige Quellen. Und das sind meist kompetente Leute, die offen zugeben: Wir sind im ehrlichen Dialog auf der Suche nach Wahrheit. Das gilt im Raum der Religionen, der Wissenschaften, der Politik – und eben auch im Raum des WWW.

Menschen, solcher Art von Gott zur Brust genommen, werden selbst zu einem Ort Gottes in der Welt – zu einem Jerusalem. Sie nehmen sich einen anderen nicht zur Brust, sondern in ihr Herz auf. Sie vermitteln ihr Grundvertrauen: „Auch du gehörst zu dem allen. Dir wird nix geschehen, wenigstens von mir nicht. Im Gegenteil: Wenn du mich brauchst, bin ich da.“

Der Jesaja, dem wir diese letzten Worte aus Kapitel 66 (siehe oben) verdanken, hat erlebt: Fremde Mächte zwangen sein Volk zu Abgaben, zu Tribut. Wenn aber Gott sich wie eine Mutter in Jerusalem verortet, ist es umgekehrt: Andere Völker zollen ihren Tribut dem Volk Gottes. Ihr Leben wird buchstäblich reich.

Ich gestehe: Da finde ich das, was am Anfang des Jesaja-Buches als Gottes Verheißung verkündet wird, friedensschaffender. Da wird ebenfalls Jerusalem als Verortung Gottes ausgemalt: Alle Völker lernen dann von der Lebensweisheit Gottes. Sie kapieren, wie ein wirklich gerechtes und friedliches Miteinander funktioniert. Darum können sie aufhören, sich übereinander zu entrüsten, weil sie sich wirklich ent-rüsten. Sie brauchen nicht mehr mit aller Gewalt ihren Platz zu behaupten, sie können mit den Mitteln des Gesprächs und, sagen wir, wirklicher hoher Kunst der Diplomatie ihre Konflikte klären und das Miteinander auf dieser einen Erde, der Welt Gottes, regeln. Sie gestehen einander zu: „Du gehörst zu dem allen“.

Gott nimmt sich die Menschen zur Brust. Das klingt auch bedrohlich. Am Ende der zitierten Worte aus Jesaja wortwörtlich:

Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.

Wer Gott missachtet, kriegt es mit ihm strafrichterlich zu tun. Sogar scharfrichterlich.

Wenn ich mich über andere entrüste, und da gibt es Leute zuhauf, die mich wütend machen, dann wünsche ich ihnen einen Moment lang das an, was sie anderen Menschen mit Worten oder Taten antun. Kann man nicht all die fremdenverachtenden Leute dorthin bugsieren, woher andere Menschen wirklich allen Grund haben, sich weg zu flüchten, und manche davon eben hierher nach Europa? Kann man nicht gewisse selbstherrliche Machthaber, die da inzwischen in allen Kontinenten ihr Unwesen treiben, mal zwingen, ihr Dasein z.B. in Slums zu verbringen… Damit sie mal endlich die wahre Wirklichkeit kapieren und etwas nützliches tun?

Ach, könnte man doch wie man wollte… und dann merke ich: Genau das raubt mir Energie, und führt weder mich noch dich weiter.

Solche Gedanken werden auch gerne auf Gott übertragen: Müsste er nicht, sollte er nicht endlich dreinschlagen?

Aber: Will er das überhaupt? Jesaja am Ende klingt so.

Doch ich lese bei Jesaja in der Mitte vom „Knecht Gottes“. Der tat das eben nicht. Im Gegenteil. In ihm verortet sich Gott in der Welt. Heißt es. Anstelle von Dreinschlagen: Selber den Kopf hinhalten und die Haut zu Markte tragen. Sich liebend die anderen zur Brust nehmen. All die Gewalt und finsteren Gedanken und Taten sozusagen von unten, von ganz unten her unterlaufen, Stück für Stück, Mensch für Mensch, Zeit für Zeit. Immer in der Hoffnung, dass anderen damit Augen und Herzen aufgehen… Und sie Nachahmer Gottes werden: Mensch werden. Menschlich werden.

Und genau dadurch ihren Lebensdurst stillen. Sozusagen Gott als stillende Mutter erleben – in der eigenen Brust drin.

So ein Knecht Gottes ist für mich als DER Knecht Gottes Jesus. Der, der an seiner Gottesmutter Brust so viel Gottvertrauen schöpfte, dass andere ihn erlebten und erleben: Hier ist Gott gegenwärtig – unter uns! Wir sind gemeinsam ein Ort Gottes in der Welt.

Für mich ist Jesus also der Grund, warum diese alte Verheißung von Jesaja nicht verblasste im Laufe der Weltgeschichte. Warum ich zu träumen wage: Was, wenn das leibhaftige Jerusalem eines Tages seinem Namen „Gottes Frieden“ wirklich gerecht wird?

Was, wenn wir Christen als Kirche gelernt haben, den Menschen wirklich zu dienen, da zu sein wie eine Mutter für ihr Kind, ohne sie gleich vereinnahmen zu wollen wie eine Übermutter, die ihr Kind nicht freigeben kann?

Die Erfüllung von Jesaja 66 steht noch aus, aber ein Weg wird vorgezeichnet. Ich wünsche jedem von uns, dass er irgendwann im Leben spürt, wie er zu Gottes Ort wird, in einer Begebenheit der persönlichen Geschichte und als Erfahrung: „Dir kann nix g’schehn, du gehörst zu dem all’n“: Von Mutter Gott getrost gemacht kannst du getrost leben und dasein für einen, der dich jetzt braucht. Auch da, wo du der Umstände halber auf Distanz gehen musst.

Der Friede Gottes, der unser Leben gründet und umgreift, bewahre alle mit Leib und Seele in Christus Jesus.

Amen.

 

Gedanken in Zeiten der Pandemie

Liebe Leserin, lieber Leser,

besondere Zeiten erzeugen auch besondere Gedanken. Die Zeit der Corona-Pandemie ist sicher eine besondere Zeit.

Ich habe daher, natürlich in Abstimmung mit Pfarrer Michael Neugber, den Predigtblog um kürzere Beiträge erweitert, die sicher eine Andacht wert wären, die aber wahrscheinlich nie in die Öffentlichkeit kämen, denn auch Gottesdienste sind ja derzeit verboten.

Lesen Sie also in einer stillen Minute einen Beitrag dieser neuen Kategorie „Gedanken in Zeiten der Pandemie“ (M. Neugber hatte übrigens auch alternativ den Titel „Gedanken aus einer leeren Kirche“ vorgeschlagen), und nehmen Sie sich Zeit, dem Inhalt nachzuspüren. 

Mildtätig schenkt der Gerechte

„Mildtätig schenkt der Gerechte“ – Gedanken zu einem Motiv von Psalm 37 und einer Seligpreisung Jesu: „Selig sind die Barmherzigen“

An einer Stelle heißt es sogar: Barmherzigkeit reinigt von jeder Sünde (Tob.8,13)

Nach einer Phase falsch verstandener Freiheit (Ich darf alles tun, was mir nützt und mir Spaß macht) erweckt eine Pandemie bei vielen, darunter viele, viele junge Menschen solidarisches Handeln. Gegenüber denen, die zuhause bleiben müssen: wir kaufen für dich ein. Zum Beispiel.

Solidarität als ein Kennzeichen von Freiheit ist eine gute Umschreibung von Barmherzigkeit: Ich tue etwas umsonst für andere, auch wenn ich dafür keinen Lohn für mich erwarten darf. Der Lohn ist: Ich weiß, wofür ich jetzt wenigstens gut bin. Das nennt man auch Lebenssinn.

Ich sehe in den Nachrichten nun auch Warteschlangen vor Behörden: Menschen sind in ihrer Existenz bedroht, etwa Taxifahrer, Gastwirte, Künstler… Ein- und damit Auskommen bricht weg.

Sie brauchen Unterstützung, handfest, monetär.

Aus unseren Steuermitteln, gar, wenn‘s soweit kommt, mit unseren Schulden, die der Staat aufnimmt. Aufnehmen muss.

Reicht da noch unsere Solidarität? Begreifen wir, dass auch überhaupt unser Miteinander nur funktioniert, wenn wir unser Bestes schenken, also auch unser Geld, damit anderen geholfen wird? Steuern sind nicht nur Zwangsabgaben, es ist ein rechtlich geordneter Solidaritätsbeitrag. DARUM ist Steuerhinterziehung auch so gefährlich, weil er genau das untergräbt.

Irgendwann dreht sich (hoffentlich) nicht mehr alles um dieses Virus (wenn auch klar ist: Wir werden lernen müssen, dass uns noch andere Viren zu schaffen machen werden). Wir müssen wieder den Rest unserer Welt in den Blick nehmen, etwa die Kriegsgebiete, unsere Umwelt – ist uns klar, dass wir nicht umsonst dieser Tage wieder gelernt haben, wozu Solidarität eines jeden mit jedem so notwendig ist für das gemeinsame Leben auf diesem Planeten? Und dass Solidarität beinhaltet: Ich verzichte freiwillig auf so manches, wo ich meine, es täte mir (kurzfristig) gut. Ich zahle gerne Steuern – und engagiere mich deswegen, so gut es geht, für diese Gesellschaft, also politisch.

Sozusagen von Montags bis Sonntagsfor future“.

Mal sehen…

Tempelreinigung und Fake News – Gedanken aus einer leeren Kirche

Unser Herr und Meister wurde dann doch gewalttätig. Da, wo er den weltlich-religiösen Handel und Wandel vor dem Jerusalemer Tempel ein Ende setzte. Wenigstens für den Moment.

Der ganze Bereich sei ein Ort des Gebetes.

Es muss Zeiten und Orte geben, die ganz frei sind für die Zwiesprache mit Gott. Es geht um Wahrheit. Wer oder was macht mein Leben wahrhaftig, wie finde ich einen Sinn, der meinem Leben und dieser Welt überhaupt Tiefe und Würde gibt?

Die übliche Geschäftigkeit bringt mit sich nicht nur Handel und Wandel, sondern auch Klatsch und Gerücht, Lug und Trug.

Dann definiere ich mich z.B. über angeblich gesunde Hautbräune, die ich wohlfeil kaufen kann. Oder über Likes, die ich erhalte, wenn ich ins Internet mich ergieße.

Und damit bin ich beim Thema, auch dieser Tage:

Viele beten das Internet an und widmen sich in fast religiösem Eifer, dort möglichst viel unterwegs und vertreten zu sein, auf der Suche – ja, nach was? Und nun werden wieder viele Gerüchte verbreitet in Bezug auf die Pandemie, einige haben sogar die Who erreicht, etwa der Zusammenhang von Ibuprofen und der Schwere möglicher Erkrankung.

Wobei man doch bei jedwedem Medikament zu Risiken und Nebenwirkungen IMMER der Arzt oder Apotheker fragen sollte.

Als das WWW gegründet wurde, diente es dem freien Austausch der Wahrheit. Forscher wollten auf dieser Plattform über Grenzen hinweg ihre Forschungen einander mitteilen und diskutieren – auf der Suche nach Wahrheit.

Inzwischen darf ich gefühlt 99,9% dessen, was da auf dem Bildschirm erscheint, nicht mehr trauen.

Ach, käme einer, der diesen ganzen Müll, wenigstens für diese Zeit, rausschmeißt.

Aber das wäre vielleicht diktatorisch, Zensur.

Bleibt mir also nichts anderes übrig, gerade im Blick auf Jesu Tempelreinigung, sorgsam nach Orten Ausschau zu halten, wo vertrauenswürdige Informationen ohne jeglichen Verschwörungs- und Hassgehalt dargeboten werden.

Ob sich unser Herr und Meister hinter den sachlichen Besonnenen verbirgt, etwa im Robert-Koch-Institut, oder in Marburg, ja, sogar hinter Politikern, die sehr umsichtig agieren?

Gerade in diesen Zeiten lerne ich neu, wo was zu lesen lohnt und was ich getrost gar nicht erst anzuklicken brauche.

Und ansonsten habe ich Zeit, viel zeit und Ruhe. Z.B. für ein Gebet, für Gedanken, die mir beim Rezitieren von Psalmen kommen oder bei guten Gedanken auf einem Kalenderblatt.

Z.B. „Ich will der Wahrheit ein Zeuge, den Mitmenschen ein Bruder sein! (Adolf Kolping, 1813-1865).