Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten VII (Psalmsonntag)

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas erzählen: Nach dem Jesus mit den Seinen das „letzte“ Abendmahl (gleichsam als letzter Wille) gefeiert hatte, ging er zum Garten Gethsemane. Dort rang er zutiefst erschüttert betend mit Gott und seinem Leben.

Anders der Evangelist Johannes. Dort äußert Jesus seinen letzten Willen in einer längeren Abschiedsrede an die Seinen (Tenor: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe; wir finden in Gott wieder zusammen).
Danach betet er in einer Weise, bei der ich den Eindruck habe: Hier ist Jesus eins mit Gott und sich und dem Sinn seines Lebens bis zum Schluss. Er lebt ganz und gar aus seiner inneren Mitte heraus und wird auch so sterben.
Ich zitiere den 7. Text von Palmsonntag, ein Abschnitt aus dem 17. Kapitel des Johannesevangeliums:

1 Solches redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; 2 so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. 3 Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. 4 Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. 5 Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
6 Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. 7 Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. 8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

Bei allem, worüber sich nachzudenken lohnt: Meine Augen und dann meine Gedanken blieben bei dem Vers hängen, der in der Lutherbibel durch Fettdruck markiert ist:
„Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“

„Ewig“ heißt nicht „unendliche Zeit“ im Sinne unserer Zeitmessung.
Wir als Menschen erleben Zeit und alles, was da ist, ist in der Zeit. Wobei das mit der Zeit so eine Sache ist…
Im Unterschied dazu ist „Ewig“ eine Eigenschaft Gottes und daher etwas völlig anderes. „Ewig“ steht außerhalb unserer Welt Zeit. Der Begriff ist fast gleichbedeutend mit „heilig“.
„Ewig“ Leben hieße dann: Zu einem irdischen Zeitpunkt so mit sich und allem eins sein, so nah und sinnerfüllt, dass dieser Augenblick das sprengt, was man sonst als Zeit im Vergehen und Werden erlebt. Wer solches einmal erlebte, fühlt sich zutiefst geborgen.
Von Buddha wird überliefert, er habe schließlich zur „Erleuchtung“ gefunden und sei da ins Nirwana (unendlicher Seinsgrund, in dem alles aufgehoben ist) eingegangen. Er war mitnichten gestorben. Aber er hatte diese Phase auf seine Weise erlebt.
Hier (und auch sonst) in unserer Bibel ist das mit „Gott“ und „Jesus“ verbunden. Mit „erkennen“ der Wahrheit Gottes und dem Sinn von Jesu Dasein für uns. „Erkennen“: Das griechische Wort „gignoskein“, das im Original des Neuen Testamentes verwendet wird, meint ähnlich wie unser Wort „erkennen“ eine Fähigkeit des Verstandes: Plötzlich geht einem ein Licht auf, nachdem man fleißig jemand oder etwas nachgedacht hat mit allen Mitteln der Vernunft.
Doch Jesus selbst sprach aramäisch und lebte in der Welt seiner hebräischen Bibel. Hinter „erkennen“ steht dann das entsprechende Wort „jada‘ “. Das ist ein inniges, herzliches erkennen. Ein „eins“ werden. So „erkannte“ Adam seine Frau Eva, und heraus kam neues Leben. Oder Abraham erkannte seine Frau Sarah. Und so weiter. Ein leiblicher Vorgang ist mehr als „Sex“ (klingt technisch und ist oft auch so), da werden zwei Wesen innigst eins. Zeit steht still.
Analog dazu gibt es Momente, wenigstens haben das sogenannte Mystiker so erlebt, da schiebt sich zwischen Gott und Mensch kein Blatt mehr.
Da herrscht unsagbare „Innigkeit“. Ein herzliches Einverständnis. „Ewigkeit“ in der Zeit.
Diese „Ewigkeit“ kann gesucht – und, so wird es verheißen, auch gefunden – werden, wo man Jesu Leben und Sterben, sein Da sein einschließlich der Botschaft von Ostern, immer und immer wieder meditiert, sich zu Herzen nimmt, mitten in der Zeit sich Auszeit gönnt und sein Leben, seine Worte ganz persönlich nimmt. Zugleich bleibt es ein Geschenk, wo immer es und wann immer es geschieht. Und sei es in jener Sekunde der Zeitstille, wo man seinen sogenannten letzten Atemzug tut.
Und bisweilen erscheint diese „Ewigkeit“ im „Erkennen“ auch ganz weltlich.
Ich re-zitiere aus meiner ungehaltenen Predigt von vor vier Wochen:

Der Schweizer Kolumnenschreiber Lorenz Marti, eine Art weltlicher Mystiker, hat mich auf ein Theaterstück von Ludwig Anzengruber aufmerksam gemacht. Es heißt Der Kreuzelschreiber.

„Im Mittelpunkt des Stücks steht Steinklopferhans, ein Querdenker und Außenseiter. Er ist als uneheliches Kind einer Kuhmagd aufgewachsen und musste schon früh in einem Steinbruch hoch oben am Berg arbeiten. Dabei erkrankte er schwer, ohne dass sich jemand um ihn gekümmert hätte. Mit letzten Kräften schleppte er sich auf eine Wiese, legte sich ins Gras und hoffte, nie mehr aufzuwachen. Er schlief ein wie tot.
Als am Abend die Sonne unterging, erwachte Steinklopferhans, und ein unerklärliches Wohlgefühl durchströmte ihn, als ob die Sonne in ihm weiterleuchten würde. Er fühlte sich aufgehoben und erlebte eine allumfassende Geborgenheit. Von diesem Moment an wusste er, dass ihm nichts passieren konnte, wie auch immer die äußeren Umstände sein mochten: „Es kann dir nix g’schehn! – Du g’hörst zu dem all’n, und dös alles g’hört zu dir! Es kann dir nix g’schehn!“

(Gelesen in: Lorenz Marti, Türen auf! Spiritualität für freie Geister, Freiburg im Breisgau 2019, S. 80 – 82 „Ergriffenheit und Einheit“)

Die Fragen an Gott und die Welt und ans Leben und damit Skepsis und Zweifel bleiben. Aber im Hintergrund erklingt als Grundmelodie des Lebens:
„Es kann dir nix g’schehn! – Du g’hörst zu dem all’n, und dös alles g’hört zu dir! Es kann dir nix g’schehn!“

Mehr kann ich eigentlich uns allen nicht wünschen.
Gott gebe es. Und es ist alle Zeit wert, sich Zeit zu nehmen und solcher „Erkenntnissuche“ zu widmen.
P.S.: Das ist auch ein gutes Heilmittel gegen den Hochmut, alle Wahrheit, und sei es die tiefgläubigste, für sich gepachtet zu haben.
Im Gegenteil.

Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten VI

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Manchmal kommen mir Tränen der Freude. Ich erfahre, wie so viele Mitmenschen kreativ Zeichen einer Mitmenschlichkeit setzen, die ich einfach nur gut christlich nennen kann. Sie setzen Lebenszeichen wider tödliche Bedrohung.
Ob das so bleibt, wenn diese Seuche gegangen ist und neue (und auch alte) Herausforderungen (wieder) erscheinen? Z.B. die Sache mit der gemeinsamen Verantwortung für diese Welt und der Begrenzung des Schadens, den wir Menschen ihr mittlerweile zugefügt haben?
Schön wäre es.
Doch da ist wegen allem auch die Furcht, es könne einen selber treffen, oder Menschen, die einem am Herzen liegen. Aus der Furcht wird leicht irrationale Angst. Und die schlägt um in Aggression und Wahn.
Ich hörte gestern, wie eine französische Krankenschwester Drohbriefe in ihrem Briefkasten vorfand und ein Arzt anonym zum Wegzug aus seinem Viertel aufgefordert wurde.
#Hass# erhebt wieder sein Gesicht.
Heute morgen eine in gebotener Distanz geführte Unterhaltung: Wenn das vorbei ist, dann ist alles, was wir zur Zeit positiv erleben, auch vorbei. Alte Verhaltensweisen feiern „fröhliche“ Urständ, es ist da wie mit den guten Vorsätzen zu Neujahr.

Und nun begegnet mir ein weiterer Bibeltext von Palmsonntag, der in dieser Lage fast für sich spricht:

Aus Hebräerbrief 11 und 12:

1 Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. 2 In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen.
8 Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, an einen Ort zu ziehen, den er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. 9 Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen im Land der Verheißung wie in einem fremden Land und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. 10 Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.
11 Durch den Glauben empfing auch Sara, die unfruchtbar war, Kraft, Nachkommen hervorzubringen trotz ihres Alters; denn sie hielt den für treu, der es verheißen hatte. 12 Darum sind auch von dem einen, dessen Kraft schon erstorben war, so viele gezeugt worden wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres, der unzählig ist.
39 Diese alle haben durch den Glauben Gottes Zeugnis empfangen und doch nicht die Verheißung erlangt, 40 weil Gott etwas Besseres für uns vorgesehen hat: dass sie nicht ohne uns vollendet würden.

12 1 Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,
2 und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.
3 Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.

Ob Dietrich Bonhoeffer an diese Worte dachte, als er einst in der Isolation im Gefängnis sein berühmtes Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ schrieb?
Es ist nicht immer leicht, sich nicht von den eigenen irrationalen Ängsten beherrschen zu lassen, dafür aber getrost Sorge für die Zukunft zu tragen.
Die Verfasserin des Hebräerbriefes verweist darauf: Wir sind nicht allein.
Auch wenn wir allein sind:
Unsichtbar umgibt uns eine „Wolke von Zeugen“ guter Hoffnung als Lebensgrundlage für Besonnenheit und, wie es im Morgengebet der Benediktiner heißt: „Gott lasse unsere Liebe immer reicher werden an Einsicht und Verständnis, damit wir lernen, worauf es ankommt…“ (vgl. Philipperbrief 1,9f.)
Der Glaube, also das Festhalten an Gottes Liebe zu allen, ist für einen einzelnen bisweilen ganz schwer. Doch wir können einander tragen, weil uns der Glaube vieler anderer trägt. Und mittendrin als Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte Gottes Jesus Christus. In ihm selbst Gott, der an uns glaubt. Damit wir werden, wie es hie und da und auch dieser Zeit unter uns hoffnungsvoll aufblüht.
„Die Wolke der Zeugen“ nannte sich einst ein Buch von einem evangelischen Pfarrer. Er griff auf evangelische Weise die katholische und orthodoxe Tradition der Achtsamkeit auf „Heilige“ auf. Diese „heiligen“ Menschen lebten jeweils eine Farbe der Liebe Gottes. Wenn wir uns deren Leben anschauen, können wir uns in uns selbst vertiefen, die Tiefe des eigenen Leben ergründen: Was ist meine Lebensfarbe? Wozu lebe ich – und für wen? Was ist mein Teil an der Aufgabe, die sich Gott gestellt hat, um diese Welt besseren Zeiten entgegen zu führen? Was ist mein Part, wenn wir versuchen, der göttlichen, weil wahren Mitmenschlichkeit Jesu nach zu folgen in unseren Zeiten?

2006 erschien eine Art Neuauflage dieses „Heiligenkalenders“ : „Woran sie glaubten – wofür sie lebten“. Vorbilder für die 365 Tage des Jahres.
Heute, am 4. April wird an den Todestag von Martin Luther King erinnert.
Übrigens: Die tatsächlichen oder angenommenen Todestage von „Heiligen“ gelten als zweiter und endgültiger Geburtstag: Sie sind da angekommen, wo Jesus zu Ostern hinging: Ganz in der Wirklichkeit des lebendigen Gottes. Und somit sind und bleiben sie uns präsent.
Martin Luther King: Ich denke, der ist bekannt, ansonsten siehe Wikipedia.
In dem erwähnten Kalenderbuch wird zitiert, was er unter anderem am 4. April 1967 (also genau ein Jahr vor seiner Ermordung) in der Riverside Church in New York erklärte, und ich re-zitiere:

Ich muss meiner Überzeugung treu bleiben, mit allen Men¬schen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Diese Berufung zur Kindschaft und zur Brüderlichkeit geht über die Bindung an eine Rasse, eine Nation oder ein Glaubensbekenntnis hinaus. Und weil ich glaube, dass dem Vater besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich heute Abend hierher, um für sie zu sprechen…. Wir sind gerufen, für die Schwachen zu sprechen, für die, die keine Stimme haben, für die Opfer unserer Nation und für die, die sie Feinde nennt. Denn keine von Menschen gemachte Erklärung kann diese Menschen zu weniger machen als zu unseren Brüdern.

Und Schwestern.
Und nun das erwähnte Gedicht von Dieterich Bonhoeffer:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken
und dann gehört dir unser Leben ganz.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, … dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.

Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten V

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Es ist kein besonderer Anlass. Einfach so betrete ich ein Blumengeschäft.
Mir ist danach, meiner Frau einen schönen Strauß zu schenken.
Gewiss, gewiss, eigentlich müsste man sparen, weil die Waschmaschine in ihre Tage gekommen ist, die nächste Versicherung fällig wird und das Auto beim Fahren so komische Geräusche macht.
Ja, und eigentlich geht es vielen Menschen so schlecht. Da wäre das Geld als Spende auch gut angelegt.
Trotzdem.
Bei der Auswahl der Blumen schaue ich nicht mehr auf den Preis. Ich achte auf die Art, die Farben, den Duft.
Später wird meine Frau sagen „Du spinnst!“ – aber gefreut hat sie sich trotzdem.

Am Palmsonntag wäre Jubiläumskonfirmation gewesen. Nun ist „nur“ offene Kirche. Und mir begegnet nun einer der Predigttexte für diesen Sonntag, der wäre sogar turnusgemäß dran gewesen. Es ist einer meiner liebsten biblischen Geschichten, ich darf ihn hiermit vorstellen:

(aus dem Markusevangelium, Kapitel 14)
1 Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der Ungesäuerten Brote. …
3 Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
6 Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

Diese Geschichte kann man sich gar nicht konkret genug vorstellen.
Jesus nimmt seine Gefolgschaft mit in das Haus eines Menschen, der (noch?) aussätzig ist – oder war? Jedenfalls nicht die erste Adresse.
Vor Jesus liegt die Grausamkeit des Karfreitags. Sein Leib wird zu Tode geschunden.
Plötzlich ist dieser von Männern und ihren klugen Reden dominierte Raum erfüllt mit reiner Zärtlichkeit im Überschwang. Eine Frau tut Jesus einfach nur gut.
Ein Duft von absichtsloser Hingabe erfüllt das Haus.

Das muss so sein. Sagt Jesus. Alles andere, die wirtschaftlichen und sozialen Geldfragen haben ihre Zeit. Und ihre absolute Berechtigung. Aber nicht jetzt.
Jetzt will Jesus es genießen.

Die Evangelisten haben das auch nicht ausgehalten. Sie legten Jesus Worte in den Mund, die das Handeln der Frau rechtfertigen sollen.
Hier: Jesus wurde Christus genannt. Durch seinen Tod am Kreuz hindurch hat Gott sich zu ihm als Erlöser bekannt. Und bei Jesu Begräbnis wurde er aus Gründen der Eile nicht vorschriftsmäßig gesalbt.
Christus heißt: Der Gesalbte Gottes. Aber bis jetzt war Jesus nicht gesalbt. Das alles ist nun hiermit nachgeholt bzw. vorgeholt.

Ich glaube jedoch: Jesus rechtfertigte die Frau einfach dadurch, dass er sich freute, dass er diese Zärtlichkeit und diesen Duft schlicht wohltuend genoss. Punkt. Denn ein Zeichen solcher Liebe braucht keine weitere Begründung.

Jesus, die Mitmenschlichkeit Gottes in Person, ist immer für andere da.
Nur selten wird erzählt, dass er sich zurückzieht zur betenden Zweisamkeit mit Gott. Auch da bleibt er nicht immer ungestört.
Nur selten wird erzählt, dass er ganz der Empfangende ist.
Nach seiner Geburt etwa: Der, der durch Mutterbrust gestillt wird und geborgen liegt in der Eltern Arme.
Bei seiner Taufe empfängt er Gottes Heiligen Geist. Der ist nun in ihm ganz zuhause.
Danach gleich ringt Jesus in der Wüste Einsamkeit mit Gott und der Welt, mit teuflischen Versuchungen und wie er seinen Weg zu gehen hat. Am Ende, heißt es, kamen Engel und dienten ihm. So auch bei der letzten Versuchung: Im Garten Gethsemane, beim letzten Gebet und Ringen: Flucht oder Annahme seines letzten Ganges? Blut und Wasser habe er dabei geschwitzt in dieser Einsamkeit (die Jünger schliefen ja).
Du wieder kam dann ein trostreicher, stärkender Engel, heißt es.
Ach ja – da bei jener nächtlicher Schifffahrt auf stürmischem See Genezareth – da empfing Jesus wohlverdienten Schlaf. Bis er geweckt wurde.
Und in dieser Geschichte: Da will er sich nicht mehr stören lassen. Da gilt das, was die Frau (und es ist so was von egal, was diese Frau sonst tat – jetzt ist sie da mit ihrer Geste) ihm wohltut.
Jesus braucht Zärtlichkeit.
Ganz Mensch.
Ganz Gott.

Das ist das Überraschende.
Wenn Jesus wirklich, wie es das Glaubensbekenntnis später formuliert,
auch ganz Gott ist – dann empfängt Gott selbst diese zärtliche Geste. Dann erscheint Gott hier als jemand, der sich darüber freut und es genießt.
Der nicht gibt, nicht immer da ist für uns, sondern der empfängt. Kein Opfer, kein Lobpreis , keine Klagen – einfach nur solche Geste.

Das Gebot „Liebe Gott über alles, mit ganzem Herzen…“ steht dadurch in neuem Licht.

Jeden Sonntag wird ein frischer Blumenstrauß auf den Altar gestellt.
Unter das Kreuz, vor das Kreuz, für Gott.
Einfach so.
Ein Zeichen menschlicher Hingabe an den Gott, der sich darüber freut.
Einfach so.
Es müssten duftende Blumen sein – zum Gedenken an diese Begebenheit: „Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“

Wenn Sie mal wieder ihre Kirche besuchen (etwa zur Zeit der „Offenen Kirche“) oder eine andere:
Wagen Sie es.
Bringen sie eine Blume mit und legen sie diese auf den Altar.
Ja, es wird erstaunte Blicke geben, vielleicht auch den Einspruch eines Küsters (nicht unserer, der weiß es zu schätzen).
Und doch: Legen sie eine Blume hin und spüren dann nach, wie sich das anfühlt.
Gott freut sich.
Und sie vielleicht auch.

Und dann?

Dann mag die Zeit kommen, wo wieder gilt:

„Ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun.“

Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten IV

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Weder Verlag noch Autorin haben mich aufgefordert. Ich finde es wirklich gut und möchte es weiterempfehlen:
Tina Willms: Zwischen Abschied und Anfang. Ein Begleiter durch die Passions- und Osterzeit. Andachten, Gedichte und Gebete. Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 2020
ISBN: 978-3-7615-6702-9.
Sie müssen es nicht über die üblichen großen Versandhäuser kaufen.
Sie sollten, wenn Sie es für sich als Begleitung in der kommenden Zeit haben wollen, es bei einem unserer „kleinen“ Buchläden in Karben, in Bad Vilbel, in Friedberg bestellen. Die dürfen zwar zur Zeit keine direkten Kundengeschäfte tätigen, aber indirekt schon: Per Telephon, per Email, und so weiter. Sie liefern aus oder lassen ausliefern. Damit unterstützen Sie unsere liebenswerten „kleinen“ Läden vor Ort und schaden den „Großen“ eigentlich gar nicht. Und haben selbst einen Gewinn.
Das wäre doch eine gute Übung für „die Zeit danach“, oder?

Das Evangelium für den kommenden Palmsonntag ist die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem.
Dazu schreibe ich nun nichts selbst, sondern biete Ihnen an, den Bibeltext nach dem Evangelium des Johannes zu lesen und dann mit mir einen Blick in das Buch von Tina Willms zu werfen als Kostprobe vieler weiter lebensermutigender Texte.

Der Bibeltext:
Joh 12,12-19
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): 15 „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.“ 16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
17 Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. 18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Und nun aus „Zwischen Abschied und Neuanfang“, S. 11-12 und 14-15:

Jesus zieht in Jerusalem ein: Wie eine Ouvertüre, so kommt mir diese Geschichte vor. Ein Eingangsstück, in dem alles, was kommen wird, schon anklingt.
Da sind die Menschen, die ihn empfangen. Keinen roten Teppich breiten sie vor ihm aus, sondern einen Flickenteppich aus dem, was sie vorfinden. Palmzweige von den Bäumen am Wegrand. Dazu ihre Kleider, die sie am Leibe getragen haben. In ihnen stecken ihre Geschichten, ihr ganzes Leben legen sie aus vor ihm, der da kommen soll. Ihr Elend und ihre Hoffnungen, den Glanz ihres Lebens ebenso wie Schweiß und Schmutz.
Und der Soundtrack dazu? Das ist kein Triumphmarsch, der da erklingt. Nichts Herrschaftliches. Auch keine feine, reine, eindeutige Musik.
Die Menschen, sie jubeln und schreien. Ihre Sehnsucht schreien sie heraus und ihre Verzweiflung. Nicht »Halleluja« rufen sie, kein »Lobt Gott!«.
Sie schreien: »Hosianna! Hosianna!« Hilf doch! Hilf uns! So wie dein Name es sagt: Jeschua, Jesus, der Retter.
Und dann endlich kommt er. Die Rufe branden auf, die Menschen recken die Köpfe. Da, da ist er! Er, auf den wir so lange gewartet haben.
Er reitet auf einem Füllen. Seine Beine berühren den Boden fast. Und wer ihn sieht, kann es schon ahnen: Es wird nichts mit einer Machtergreifung der Art, in der einer sich selbst zum Gott macht. Der von Gott Ermächtigte wird nicht dreinschlagen, zerstören oder gar vernichten. Er wird nicht zu Felde ziehen, um sich die Erde Untertan zu machen, und wird keine Kreuzzüge ausrufen, um über Leichen zu gehen.
Der Einzug dieses Königs, der die Rettung im Namen trägt, ist geprägt von der Nähe zu denen, die auf ihn warten, die unten sind. Er sieht die Flickenteppiche an, den Glanz, die Tränen, den Dreck, und schaut denen ins Gesicht, die sie gewebt haben. Wer ihm begegnet, wird sich verändern.
Diese Ouvertüre, sie erzählt schon von der Allmacht einer Liebe, die himmlisch ist, weil sie menschlich wird. Diese Liebe, sie scheut weder Schmerz noch Schuld, weder Leid noch das Sterben. Aber sie überlässt sich dem allen nicht.
Vielmehr stattet sie das Leben aus mit einer subversiven Kraft. Die lässt Gewalt und Hass ins Leere laufen. Und überwindet am Ende sogar den Tod.

Gebet: Sich menschlich zeigen
Menschgewordener Gott,
du kennst meine Sehnsucht nach einer Schönheit,
die vollkommen ist.
Wie gern würde ich dich
schön finden
auf eine makellose Weise.
Unversehrt, wohlriechend, lächelnd und rein.
Schwer auszuhalten,
dass du diese Wünsche durchkreuzt.
Du weinst und schreist,
blutest und schwitzt.
So wie ich
in meinen schutzlosesten Momenten.
Lehr mich,
die andere Schönheit zu sehen,
die sich erweist,
wo wir uns menschlich zeigen.
Wo wir
Wunden verbinden,
Tränen abwischen,
Schmerz aushalten
und einander beistehen
in den schwersten Stunden.

Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten III

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Ein Griff, und die Sucherei geht los. Ich finde sie nicht wieder. Aber ich habe die Karikatur deutlich vor Augen:
Ein Pfarrer steht vor dem Altar. Über dem Altar hängt ein Kreuz. Eigentlich ein Kruzifix (also eine Darstellung des Gekreuzigten). Doch das ist leer. Man sieht noch die Umrisse, die Löcher von den Nägeln. Aber er selbst ist verschwunden.
Und auf dem Altar liegt ein Abschiedsbrief.
Kirchenkritik? Jesus tritt aus dieser Kirche aus?
Oder Verheißung?
„Jesus geht voran auf der Lebensbahn“…
Was steht in dem Brief?
Vielleicht:
Es nutzt nichts, wenn ich als Leidender hier festhänge – ich muss dahin, wo ich gebraucht werde. Zu Leidenden, zu Sterbenden, zu den in Geflüchteten-Lagern eingepferchten, zu denen, die in elendigen Hütten hausen, zu Obdachlosen unter die Brücke.
Ich muss los zu denen, die körperlich-seelisch am Ende sind, weil sie in den Krankenhäusern ankämpfen nicht nur gegen den Tod, sondern auch gegen ein krank gespartes und gewirtschaftetes Gesundheitswesen.
Ich muss los zu denen, die ihren Dienst für die Allgemeinheit tun und dafür angefeindet werden.
Ich muss auch los zu den politisch Verantwortlichen, die zusammengebrochen sind.
Meine Bitte:
Folgt mir nach.
Denkt an mich, wo ich gerade bin.
Euer Jesus, ein Sklave der Liebe Gottes.

Dieses Bild stand mir vor innerem Auge, als ich dieser Woche erneut der Lesung aus den neutestamentlichen Briefen für Palmsonntag begegnete,
ein Abschnitt aus dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Philippi, wobei Paulus hier eines der ersten christlichen Glaubensbekenntnisse zitiert, eher ein Glaubenshymnus:

Phil 2,5-11
5 Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
6 Er, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
8 Er erniedrigte sich selbst
und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
9 Darum hat ihn auch Gott erhöht
und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist,
10 dass in dem Namen Jesu
sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
11 und alle Zungen bekennen sollen,
dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Ich stelle mir vor: Diejenigen, die Jesus (wie auch immer) unmittelbar als heilsam (leibhaftig, seelisch, glaubensmäßig) erlebten, erlebten durch ihn Gott gegenwärtig. Und damit Frieden, Versöhnung, als Hoffnung: alles wird nun gut. Sie erlebten Befreiung vor der oft insgeheimen ANGST vor dem Tod und damit eine Lebenshoffnung über den Tod hinaus. Also Geborgenheit. Vertrauen. Und die Freiheit, sogar Gegner zu lieben. D.h., diese lieber zu segnen als zu verteufeln.
Ich stelle mir vor, was sie da erlebten, dafür suchten sie Worte, Bilder, um es zu beschreiben.
Und sie drückten es auch so aus: Jesus ist ein Teil Gottes selbst. Er komtm von Gott. Da aber Gott unteilbar ist, schenkt sich Gott mit Jesus selbst. ER ist zur Welt gekommen, weil er sie so sehr liebt. In Jesus begegnet Gottes ganze Mitmenschlichkeit. Und die reicht bis dahin, wo wir letzte Gottlosigkeit erleben: Im Tod, in der Qual, im letzten Schrei nach Leben und nach Erlösung.
„War gehorsam bis in den Tod“ – d.h., im Grunde hörte Gott auf sich selbst, auf sein „Herz“, das für uns schlägt (und, wie ich aus heutiger Einsicht vermute: Auch schlägt für jedwede Kreatur).
Darum wird Jesu Tod zu seiner „Erhöhung“: Im Tod das Leben. Der Tod kein Ende, sondern eine Wende. Und Jesus erhält den Titel, der in der Bibel Gott vorbehalten ist und den die römischen Kaiser für sich reklamierten: „HERR“.
Und der Herr ist der, der wirklich anderen Menschen zu dienen versteht.
Damit wird eine Glaubensaussage auch zu einer Kampfansage gegen menschliche Willkür, Anmaßung, unmenschliche Machtausübung.

Gott sei Dank!
So daher gesagt – doch es ist mehr. Es wird ein jubelndes Lied vom ganzen Leben. Ein Lied, das sogar die für uns Gestorbenen anstimmen.

Gott sei Dank!
Ich höre es aus guten Werbesprüchen, von den öffentlich Rechtlichen,
und von vielen anderen:
Wie vielen Menschen gedankt wird, die für uns ihre Haut zu Markte tragen, wie alte Redewendung sagt. Die einfach da sind, wo sie jetzt gebraucht werden.
Und ich würde gerne auch Gott sei Dank sagen für einsichtige Politiker,
die jetzt noch selbstherrlich uneinsichtig „Ihr Land First“ und damit eigentlich „Sie selbst First“ sagen und nicht verstehen, dass gerade jetzt (eigentlich schon überfällig) auch für die Länder gilt: Entweder wir alle gemeinsam oder gar nicht.
Ich sage so vielen insgeheim Dank und damit Gott sei Dank.
Auch ein Bekenntnis, das Jesus der Herr ist – der, der dient in den vielen Dienenden.
Warum muss ich jetzt an das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ denken?

Die Opferung Isaaks – und was opfern wir gerade?

Am vergangenen Sonntag wäre als Lesung aus dem Alten Testament einer der abgründigsten Geschichten dran gewesen, die sogenannte „Opferung Isaaks“, nun in der revidierten Luther-Übersetzung auch „Das Opfer Abrahams“ genannt.
Isaak: Der lang ersehnte und verheißene gemeinsame Sohn von Abraham und Sara, ihr einziges gemeinsames Kind.
Und die Geschichte aus 1. Mose 22:

1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.
3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne. 5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.
6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.
9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz 10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.
11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.
13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt. 14 Und Abraham nannte die Stätte „Der HERR sieht“. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sich sehen lässt.
15 Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her 16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, 17 will ich dich segnen und deine Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; 18 und durch deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast.
19 So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba und Abraham blieb daselbst.

Diese Geschichte ist abgründig und enthält viele Ebenen, über Gott und wer er ist und wer er wirklich ist, nach zu denken und was heißt hier eigentlich: auf Gott hören?
Und wie fast immer gibt es in der Bibel dazu eine Gegengeschichte, sie steht im Buch der sogenannten Richter: Der israelitische Stammesführer Jeftah steht mit dem Rücken an der Wand, die Ammoniter haben etwas dagegen, dass er und sein Volk in Frieden existieren kann.
Und da wird nun erzählt:

Ri 11,30-40
30 Und Jeftah gelobte dem HERRN ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, 31 so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem HERRN gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen. 32 So zog Jeftah gegen die Ammoniter in den Kampf. Und der HERR gab sie in seine Hand. 33 Und er schlug sie mit gewaltigen Schlägen von Aroër an bis hin nach Minnit, zwanzig Städte, und bis nach Abel-Keramim. So wurden die Ammoniter gedemütigt vor den Israeliten.
34 Als nun Jeftah nach Mizpa zu seinem Hause kam, siehe, da geht seine Tochter heraus ihm entgegen mit Pauken im Reigen. Sie war sein einziges Kind, und er hatte sonst keinen Sohn und keine Tochter. 35 Und als er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach: Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst mich! Denn ich habe meinen Mund aufgetan vor dem HERRN und kann’s nicht widerrufen. 36 Sie aber sprach: Mein Vater, hast du deinen Mund aufgetan vor dem HERRN, so tu mit mir, wie dein Mund geredet hat, nachdem der HERR dich gerächt hat an deinen Feinden, den Ammonitern.
37 Und sie sprach zu ihrem Vater: Du wollest mir das gewähren: Lass mir zwei Monate, dass ich hingehe auf die Berge und meine Jungfrauschaft beweine mit meinen Gespielinnen. 38 Er sprach: Geh hin!, und ließ sie zwei Monate gehen. Da ging sie hin mit ihren Gespielinnen und beweinte ihre Jungfrauschaft auf den Bergen. 39 Und nach zwei Monaten kam sie zurück zu ihrem Vater. Und er tat ihr, wie er gelobt hatte, und sie hatte nie einen Mann erkannt. Und es ward Brauch in Israel, 40 dass die Töchter Israel jährlich hingehen, zu klagen um die Tochter Jeftahs, des Gileaditers, vier Tage im Jahr.

Hier steht ein Mensch zu seinem Wort vor Gott.
Mit tödlichen Folgen für sein Kind.
Kein Ersatzopfer…

Die Geschichte von Abraham zusammen mit dieser lässt unter vielem mich fragen: Welches Bild mache ich mir von Gott, was halte ich für sein Gebot?
Und die Bibel selber gibt als Auskunft: Nicht alles, was als Wort Gottes daherkommt, muss auch wirklich Gottes Wort sein. Und nicht alles, was Menschen vor Gott geloben, geht auch zu Gott. Vieles eher zum Teufel.

D.h., letzlich muss man ein bibelwort, und darin besonders die ausdrücklich als Gottes Wort gekennzeichneten Stellen (dazu gehören auch Engelworte und anderes) immer im Kontext lesen, und der Kontext ist gewaltig: Die ganze Bibel. Die ganze Entwicklung im hin und her und vor und zurück, was Gott denn wirklich will, wie er ist, und was er uns als Leben gebietet. So gehört zu dieser Geschichte dann auch die Geschichte Jesu, nicht als Antwort, sondern als Kontext. Besonders die Leidensgeschichte.

Nun fragen wir heute weniger nach Gottes Stimme, die uns leiten könnte in bedrängenden, auch ethischen Fragen (z.B.: Wer soll bei Krankenhausüberbelegung vorrangig behandelt werden, wer ist nicht mehr behandlungswürdig?).
Wir fragen nach der Stimme der Vernunft. Und ich befürchte, da ist es nicht viel anders. Nicht überall, wo Vernunft draufsteht, ist auch welche drin.
Die Vernunft erfordert zur Zeit nicht nur unsere Solidarität neu, sondern auch unsere Freiheit: Da wird viel geopfert. Und inzwischen wird darüber nachgedacht, dass wir zwangsweise freiwillig uns orten lassen. Handy macht‘s möglich (wobei: Die Freiheit, unerkannt und frei uns zu bewegen, haben wir ja schon aufgegeben: Google und Facebook und so weiter wissen Bescheid!).
Was opfern wir derzeit auf dem Altar der Vernunft? Was auf dem der Bequemlichkeit? Was auf dem Alter der Sorge um unser Wohlergehen? Der Gesundheit? Und so weiter… Zur Zeit geht es um die Opferung von Grundwerten, um Regeln des Grundgesetzes…
Und es ist nicht einfach, die Stimme der wahren Vernunft zu hören, sie dann auch zu befolgen. Zumal eine herzlose, kalte Vernunft gnadenlos Opfer fordert. Weisheit hingegen setzt herzlichen Vernunftgebrauch voraus.
Diese abgründigen Bibelstellen (und es gibt noch mehr davon) fordern heraus zur kritischen Frage: Was ist denn nun die wahre Stimme Gottes? Was ist wirklich wahrhaftig in meinem Leben, meinen Tun und Handeln und Sein und Lassen?
Wenn ich das schon bei Gottes Worten fragen darf – dann wohl erst recht bei allem, was scheinbar menschenvernünftig daherkommt.
Vielleicht ist die erste Stimme der Vernunft einfach – die kritische Frage: Ist das wirklich so? Wem nützt es? Wer und was wird geopfert? Und was, wenn diese Opfer keine sein dürfen?
Die biblische Geschichte stellt Fragen. Und vielleicht ist genau das gut so.
Ich denke mir, genau hier reichen sich alle Wissenschaften die Hand: Die Naturwissenschaft incl. der Naturphilosophie, die Geisteswissenschaften incl. der Theologie, die Gesellschaftswissenschaften incl. Politik und Ethik, die Erziehungswissenschaften incl. der Erziehung von Kindern zu fragenden Wesen und so weiter.

Beispiel: wir haben da bis in die Rechtsprechung (Erbrecht z.B.) hinein so unsere Vorstellung von Vaterschaft und Mutterschaft und Familie.
Muss das wirklich unbedingt so sein? Ich habe von einem Volk aus Südostasien gehört, da ist die leibliche, also genetische Vaterschaft und Mutterschaft eine Sache der reinen Fortpflanzung. Aber Vater / Mutter ist für ein Kind der, der sich ums Kind kümmert. Und das können andere Mitglieder der Gemeinschaft sein. Da ist das anders geregelt. Und so frage ich: Was wäre, wenn wir auch die Kinder, die nicht unsere sind, als die unseren betrachten? Und ebenso das Wohlergehen der „Alten“ als unsere gemeinsame Aufgabe? Und leibliche / genetische Zusammenhänge als sekundär betrachten? Wäre es nicht „menschlicher“? Löwen bringen wg. der genetischen Vaterschaft ja fremde Löwenkinder um…
Und noch einmal Abrahams Geschichte: Da war sein erster Sohn, Ismael.
Galt der nichts?
Immerhin heißt der „Gott hat erhört“.

Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten II

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

„Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen
noch tritt auf den Weg der Sünder
noch sitzt, wo die Spötter sitzen
sondern hat Lust am Gesetz des HERRN
und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!“

So beginnt der erste aller Psalmen. Er ist relativ kurz. Lang und breit besingt Ps. 119 die Freude daran, den Weisungen Gottes nachzudenken und sie zu beherzigen. Die biblischen Bücher der Weisheit, gut zu leben, entfalten dies weiter. Ihr Bild von Gott: Gott ist nun nichtmehr der mythische Himmelsherrscher, der mehr oder weniger willkürlich in das Geschick der Menschen eingreift, und sei es noch so lieb gemeint. Gott ist derjenige, der sich mit seinem Geist eingebracht hat in diese Welt. Der seine Weisheit kundtut, entweder durch Gebote, durch Erfahrungen von Menschen, was gut ist und was nicht oder – in dem Menschen mit hellem Verstand zu erforschen suchen, was wirklich wahr ist, wahrhaftig, wahres Leben. Und da hat keiner die Wahrheit gepachtet (weil er dann Gott ganz für sich vereinnahmen würde), sondern alle sind auf der Suche, mit ganzem Verstand, ganzer Seele, mit Lieb und Leben.
Es geht um fundiertes Wissen, wie alles zusammen hängt – und alles ist aufeinander zu geordnet – und wie aus diesem Wissen die Weisheit wird, so zu leben, dass es auch dem Mitmensch gut tut.
Auf Dauer.

Im Buch Jesaja findet man die sogenannten Lieder vom Knecht Gottes. Dieser Knecht Gottes mag ein einzelner gewesen sein oder eine Gruppe, gar eine ganze Religionsgemeinschaft, im Falle Jesajas Israel.
Wir denken auch an den Knecht Gottes Jesus.
Auf jeden Fall hat so ein Knecht Gottes sich darauf spezialisiert, über Gottes Weisheit, Güte, Wille mit ganzem Herzen voller Vernunft nach zu denken. Und erlebt, wie er Dinge laut sagen muss, anfragen hat an seine Umgebung – und damit auf heftigen Widerstand stößt.
In Jesaja 50 finden sich diese Worte von ihm:
Jes 50,4-9
4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Es gab sie auch schon in Vorelektronischen Zeiten: Haß-, Droh- und Mordbotschaften.
Aus anderen Stellen im Jesajabuch, aber auch von anderen Propheten wie Amos oder Jeremia erahnt man, was der Knecht laut gesagt haben muss und weswegen er so aneckte. Er hielt seiner Gesellschaft einen Spiegel vor, ich gebe es mal konzentriert mit meinen Worten wider, ein wenig globalisiert: Mit eurer Lebensweise, die immer auf Kosten der vom Leben Benachteiligten geht und sogar auf Kosten der Schöpfung, seid ihr Gott los. Gerade da, wo ihr meint, Gott zu ehren, tretet ihr seine Weisheit des Lebens mit Füßen. Ihr könnt euch eure Gottesbilder gerade mal sonst wo hin stecken, Gott wird einen Teufel tun – und euch gottlos lassen. Denn ihr seid mit eurem Verhalten keine Menschen mehr, sondern bestenfalls Tiere, die dem Gesetzt von Werden und Vergehen unterliegen. Ihr habt eure Zukunftsberechtigung verspielt – fertig machen zum Untergang! Es walte das gnadenlose Gesetz der Natur und ihrer Geschichte. Das Anthropozän ist hiermit beendet.
Doch es könnte weitergehen: Wenn ihr endlich lernt, solidarisch zu leben, wenn ihr begreift, dass das schwächste Glied in einer Gesellschaft dasjenige ist, um das sich alle sorgen müssen, dem sich alle annehmen müssen, wenn ihr begreift, dass nur mit wirklich menschlichem Verhalten der Mensch als Wesen seine Daseinsberechtigung hat.
Und weswegen es zur Weisheit Gottes in dieser Welt gehört, dass jeder Mensch eine unverlierbare, unbedingt schützenswerte und achtenswerte würde hat. Unabhängig von seinen Taten oder Untaten, seinem Verhalten oder Missverhalten, seinem Wohlergehen oder seinem Schicksal. Dass Gottes Weisheit ein Wissen um das ist, was Fremde, vom Leben Geschädigte (damals Waisen und Witwen und Privatinsolvente), aber auch das ausgenutzte Vieh und ausgelaugte Böden brauchen. Weswegen Gott deren Anwalt ist, der eure Solidarität einklagt – und darum euer Wirtschaften, euren Lebenstil, euer „Weiter so“ massiv hinterfragt.

Der Knecht Gottes sucht Wahrheit, ein Produkt aus nüchternem Wissen um die Dinge und herzlicher Weisheit und sucht damit die Auseinandersetzung. Er ringt um die Zukunft seiner Mitwelt. Er rüstet sich: Dieses ringen wird ein harter Kampf.

Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wenn denn hie und da Knechte solcher Weisheit (und damit Gottes) auftreten.
Sie werden schnell abserviert. Erinnert sich noch wer an Heiner Geisler (der immerhin altersweise wurde)? Von der Leyen (man mag ihr Handeln als Ministerin kritisch betrachten) hat es auf den Punkt gebracht: Die schönste neu entdeckte Solidarität in den einzelnen Ländern nutzt nichts – wenn die Solidarität in Europa schon vor die Hunde gegangen ist.
Und so sieht es aus.
Es bleibt eine offene Frage, und jeden Diskurs wert:
Sind wir in der Lage, dass, was Menschen hierzulande kreativ solidarisch einbringen, umzusetzen auf unser Miteinander, nur mal in Europa? Griechenland etc. nicht mehr alleine zu lassen in Fragen der Menschenrechte und menschenwürdigen Behandlung von Geflüchteten? Sind wir in der Lage, aus dem großgönnerhaften Rettungsschirm wirkliche Solidarität (und die kostet immer, besonders die Vermögenden, und da gibt es keinen Gegenwert – außer eben den der Solidarität) zu zeigen und d.h. auch rechtlich verbindlich fest zu schreiben?
Was übrigens inzwischen auch von Wirtschaftsweisen gefordert wird. Entweder gemeinsam alles oder in Zukunft krisenuntauglich und damit weg vom Fenster.
Wir können zur Zeit beobachten, wie der Himmel blau ist, die Luft rein, und überhaupt (von Toilettenpapier abgesehen) unsere Welt entlastet wird von des Menschen Konsum. Lernen wir, lernen wir? Reisen bildet, z.B., aber bildet leider auch schädliche Kondensstreifen. Lernen wir eine neue, besonnene Zurückhaltung? Entwickeln wir eine neue Idee für die wirtschaftliche Grundlage von unserem Leben in allen Bereichen?
Und so weiter…

Was das mit Gott zu tun hat?
Er liebt uns doch! Und er will mit uns Zukunft besser gestalten.
Damit wir wirklich lernen, wozu uns das Gesetz der Natur gerade zwingt.
Damit wir endlich lernen, wozu er selbst Mensch geworden ist.

Zu diesem Lernen gehört die ehrliche Auseinandersetzung. Der Knecht Gottes im Jesajabuch, Kapitel 50, klappt dafür das Visier runter. Ich würde mir wünschen, dieser Dialog begänne schon jetzt mit offenem Visier. Ein anderes Lied vom Knecht Gottes zeigt allerdings: Dafür muss man manchmal seine Haut zu Markte tragen.

Vielleicht liebe ich deswegen eine Nachdichtung dieser Bibelstelle aus der Feder Jochen Kleppers:

Er weckt mich alle Morgen,
er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen,
führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte
begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte
ist er mir nah und spricht.

Er spricht wie an dem Tage,
da er die Welt erschuf.
Da schweigen Angst und Klage;
nichts gilt mehr als sein Ruf.
Das Wort der ewgen Treue,
die Gott uns Menschen schwört,
erfahre ich aufs Neue
so, wie ein Jünger hört.

Er will, dass ich mich füge.
Ich gehe nicht zurück.
Hab nur in ihm Genüge,
in seinem Wort mein Glück.
Ich werde nicht zuschanden,
wenn ich nur ihn vernehm.
Gott löst mich aus den Banden.
Gott macht mich ihm genehm.

Er ist mir täglich nahe
und spricht mich selbst gerecht.
Was ich von ihm empfahe,
gibt sonst kein Herr dem Knecht.
Wie wohl hat’s hier der Sklave,
der Herr hält sich bereit,
dass er ihn aus dem Schlafe
zu seinem Dienst geleit.

Er will mich früh umhüllen
mit seinem Wort und Licht,
verheißen und erfüllen,
damit mir nichts gebricht;
will vollen Lohn mir zahlen,
fragt nicht, ob ich versag.
Sein Wort will helle strahlen,
wie dunkel auch der Tag.

Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten I

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Der Psalm: Ps. 69 in Auswahl:

2 Gott, hilf mir!
Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle.
3 Ich versinke in tiefem Schlamm,
wo kein Grund ist;
ich bin in tiefe Wasser geraten,
und die Flut will mich ersäufen.
4 Ich habe mich müde geschrien,
mein Hals ist heiser.
Meine Augen sind trübe geworden,
weil ich so lange harren muss auf meinen Gott.
8 Denn um deinetwillen trage ich Schmach,
mein Angesicht ist voller Schande.
9 Ich bin fremd geworden meinen Brüdern
und unbekannt den Kindern meiner Mutter;
10 denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen,
und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.
14 Ich aber bete, HERR, zu dir zur Zeit der Gnade;
Gott, nach deiner großen Güte erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.
21 Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand,
und auf Tröster, aber ich finde keine.
22 Sie geben mir Galle zu essen
und Essig zu trinken für meinen Durst.
30 Ich aber bin elend und voller Schmerzen.
Gott, deine Hilfe schütze mich!

Der ganze Psalm ist lang, eine lange Klage. Auf Anhieb berührt er mich in der Lage, in der wir alle stecken. Ich brauche keinen Nostradamus, um zu denken: Aha, da hat einer die Erschütterung schon vorausgesagt, die zur Zeit die ganze Welt betrifft. Mir geht es bei Psalmen so: Plötzlich werden sie „mein“ Gebet.

In allem, was diesen Psalmbeter einst bewegt haben muss, und wo er mich bewegt, höre ich die tiefe Not der Isolation, der Einsamkeit, der Desintegration.
Plötzlich ist man wie abgeschnitten von allem, was das Leben „normal“ macht: Familiäre, berufliche, nachbarschaftliche und überhaut sonstige Beziehungen und Kontakte. Auch der zu Gott ist gestört.

Ich spreche die Worte nach und spreche sie, wird mir bewusst, auf einmal für die Menschen, die sowieso schon vom normalen Leben getrennt waren und nun noch mehr: Menschen in Altenheimen mit Demenz, Flüchtende, Obdachlose, Vereinsamte aus allerlei Gründen.
Ich denke an all die Bemühungen um Integration: Integrative Schulklassen, Kindergärten, Arbeitsstätten… An Menschen, die mühsam wieder ins Berufsleben reintegriert werden mussten.
Und nun?
Wie wird es sein, wenn die Lage sich beruhigt? Es wird nicht so sein wie früher,
auf einmal müssen viele von uns sich re-integrieren (lassen).

Und dann ist da die Hölle auf Erden: Da, wo medizinisches Personal plötzlich entscheiden muss, wer noch in die Intensivbehandlung darf und wer „aufgegeben“ werden muss.
Ich höre Ideen, wie bald nur noch Risikogruppen gleichsam in Quarantäne leben sollen – wer legt es fest?
Unbewusste „Hexenjagd“?

Ach Gott…
Ein tiefer Seufzer, eine Bitte um Reintegration.
Der Beter wendet sich in allem an Gott, sucht seinen seelischen Schutz.
Er will sich wiederfinden in seiner Würde.
Letztlich will er wieder wahrgenommen werden als Teil seiner Gesellschaft (Familie, Glaubensgenossen, Nachbarschaft, Kollegen und so weiter) und umgekehrt diese auch wieder erleben als ihm zugewandte Mitmenschen.
Hat er sie eigentlich wirklich als „feindlich“ erlebt, oder machte ihn seine Krankheit (seine Schmerzen) so misstrauisch?
Er will davon geheilt werden, auch wenn er krank bleibt.

Er lässt Gott nicht los, er behaftet ihn bei seinen Verheißungen.
Die Evangelisten „hörten“ dieses Sehnen aus Jesu Mund, aus dem, was er erlitt. Und deswegen wird geschildert, dass man als Jesu letzten Schluck Galle ihm zu trinken gab bzw. Essig… und dass er „Schmach“ trug, da ein Tod am Kreuz das schmachvollste war, was Römer anderen antaten. Wer am Kreuz hing, war ehrlos. Entwürdigt.

Wenn ich diese Worte bete, bete ich sie nicht nur für mich oder für jemand anderes in dieser Zeit – ich bete sie mit Jesus. Ob Gott mich hört oder auf die anderen dort sieht, weiß ich nicht im Sinne von „Wissen mit dem Kopf“. Aber wenn Jesus unsere Bitte um integriertes Leben in Gottes Ohr ist, dann weiß ich es wieder – im Herzen.
Und ich ahne: Wenn wir zur „Normalität“, auch zur kirchlichen Normalität zurückkehren, darf es nicht so weitergehen wie bisher. Wir werden auf allen Ebenen „integrativ“ agieren müssen.
Dafür sei Gott, der uns alle haben will, mit uns. Und als Begleitmusik zu diesem Psalm höre ich die vielen Beispiele, wie Menschen es nun schaffen, Solidarität als Grundprinzip unserer Welt, unserer Freiheit, unserer Demokratie neu zu entdecken mit wunderbaren Aktionen und jetzt schon dadurch dafür sorgen, dass wir ein Stück getroster den Situationen ins Auge sehen können, wo uns „das Wasser bis zum Hals steht“. Und ich denke da nicht nur, aber auch an unser (Über-) Leben auf diesem Globus.
„Gott, nach deiner großen Güte, erhöre uns mit deiner treuen Hilfe!“

Der Grund aller Welten und die Weltepidemie Covid 19: (K)eine (Straf-) Aktion??? Gedanken zum Sonntag Judika „ Richte mich, Gott, nach deiner Gerechtigkeit“

Vorweg gesagt: was wir jetzt erleben, ist ein Naturereignis ist ein Naturereignis ist ein Naturereignis.

Trotzdem geistern ausgesprochen oder unausgesprochen insgeheim die Idee: Gott könnte doch, weil die Menschen…

Könnte vielleicht.

Ich frage zurück bei der biblischen Überlieferung.

Da wird die Sintflutgeschichte als globale Katastrophe erzählt.

Eine Geschichte (!!!) vom Schwur Gottes: Mein Lebensbund gilt. Nie wieder, solange die Erde sich dreht.

Übrigens geht es bei der Geschichte um die Frage: Was, wenn Gott wieder das ursprüngliche lebensfeindliche Chaos herrschen lässt, also seine Schöpfung auf den Nullpunkt resettet?

Tut er aber nicht. Schon gar nicht wegen der Menschen. Die sind nun mal, wie sie sind: Wunderbar geliebt und teuflisch schlecht drauf. 

Also sollte, wenn wir die Bibel ernst nehmen, in unserem Nachdenken über Gott und die Welt kein Platz sein für die Idee, mit Covod 19 wolle Gott die Menschen zu etwas zwingen, gar strafen.

In der Bibel finden sich, oft in den Psalmen, Aussagen, Gott möge sogenannte Sünder und Frevler strafen und Feinde des Gottes Volkes vernichte – also die Gemeinschaft der Gerechten vor weiterem Unheil bewahren. Dabei geht es durchaus für uns abschreckend handfest zu, handgreiflich massiv.

Am Bekanntesten sind wohl die 10 Ägyptischen Plagen, darunter auch Seuchen. Doch die sind nicht global, sondern gezielt. Und der Zusammenhang muss gesehen werden: Ägypten ist ein Bild für all das, was Gottes Volk knechtet und behindert, einander und Gott gerecht zu leben. Somit sind die Plagen ein Bild für das, womit Unfreiheit und Gewalt etc. beendet wird. 

Den 10 Plagen stehen dann die 10 Gebote gegenüber, und darauf kommt es an: Letztlich schickt Gott keine Plagen, sondern seine Weisheit: Wie werden Menschen Gott und einander gerecht?

Im Gefolge biblischer Erzählung, die sich über mehrere biblische Bücher und Generationen hinzieht, wird die Vorstellung von einem ANDERE, gar GLOBAL strafenden Gott abgelöst von der Vorstellung von einem Gott, der zum Zeichen seiner Liebe und Weisheit ein Volk mit seinen Weisungen begabt.

Also: Auf andere zeigen und sagen: Das habt ihr nun davon: Gilt nicht.

Dennoch wagten nach der politischen Katastrophe – Israel und Judaverschwanden von der Landkarte, aufgerieben im Streit zwischen den damaligen Großmächten – zuerst einzelne und dann immer mehr im Volk folgenden Gedanken:

Was wäre, wenn wir selbst schuld an unserem Schicksal sind?

Wenn dahinter ein Gott aller Welten steht, der uns damit ein Zeichen gesetzt hat, wie verkehrt und gottlos wir gelebt haben?

Wenn Gott dahinter steht – dann dazu, um uns zurecht zu richten. Dann sind wir nicht blindwütigem Schicksal ausgeliefert, dann haben wir eine Adresse, an die wir uns wenden können, selbstehrlich und zugleich vertrauensvoll.

Ziel ist es, umzukehren zu einer Gott und den Menschen gerechten Lebensweise: Liebe Gott mit allem, was du bist und deinen Nächsten wie dich selbst. Diese Zusammenfassung aller zukunftdienlichenGebote verdankt sich jener Zeit.

Schlom ben Chorin (ein Jude) hat es um 1950 so formuliert, und es wurde ein Lied in unserem evangelischen Gesangbuch (Nr. 237):

1. Und suchst du meine Sünde,
flieh ich von dir zu dir,
Ursprung, in den ich münde,
du fern und nah bei mir.

2. Wie ich mich wend und drehe,
geh ich von dir zu dir;
die Ferne und die Nähe
sind aufgehoben hier.

3. Von dir zu dir mein Schreiten,
mein Weg und meine Ruh,
Gericht und Gnad, die beiden
bist du – und immer du.

Hinter Menschengeschichte Gott suchen und aufsuchen – das ist kein Finger auf andere, sondern ein wahrhaft kreativer Akt eines Menschen für sich persönlich und im Dialog mit anderen, mit Glaubensgenossen, mit Volksgenossen vielleicht für eine Gruppe.

Also wäre für mich die Frage:

Was lehrt uns diese Zeit? Und hilft uns, Gottes Willen zum Leben neu wahrzunehmen, von verkehrten Lebensstilen umzukehren, neu zu lernen, was wirklich Zukunft in sich trägt? Das frage ich mich persönlich und dann natürlich möchte ich auch gerne mit anderen darüber sprechen. Aber nicht belehrend, sondern fragend, hörend, lernend.

Und hoffe: Da ist dann Gott mit dabei von der Partie. Also da, wo in diesen Tagen neu entdeckt wird, wie Solidarität aller mit allen (!!!) die Grundlage für Demokratie, Freiheit, Frieden und damit für die unbedingte Menschenwürde jedes einzelnen sind. 

Diese Solidarität auch mit der ganzen Schöpfung werden wir noch dringend brauchen, denn diese Welt soll nicht untergehen, sondern um Gottes willen zu gutem Ziel kommen.

Da sind wir also immer neu gefragt.

Fazit: Auch hier hat ein Virus als gottgeschickt, gar als Strafe, keinen Platz. Es bleibt ein Naturereignis.

Und schließlich:

Jesus heilte einmal einen von Geburt an Lahmen. Dem war unterstellt worden, seine Eltern wären große Sünder gewesen.

Jesus lehnt diese Vorstellung radikal ab. Dann sagt er etwas merkwürdiges: Der Mensch soll heil werden, damit Gottes Herrlichkeit auf Erden aufscheine.

Der Blick Jesu geht völlig in andere Richtung: Überall, wo etwas heil wird, werden Zeichen gesetzt, was der ganzen Schöpfung blühen soll: endlich gut sein. Endlich in Frieden sein. Endlich gerecht. Die Johannesapokalpyse beschreibt das drastisch: alles alte, teuflisch Dunkle vergeht, wie neugeboren: Lebenswelt und Gott mitten drin. Das ganze so dramatisch wie die Totalverwandlung einer Raupe in einen Schmetterling (das ist mein Bild).

D.h., nicht eine Seuche ist gesandt, schon gar nicht als Strafe, die dann auch Unschuldige trifft, sondern wir sind gottgesandt, um zu helfen und einander beizustehen, um der Kraft zur Heilung unter uns Raum zu geben und – auch das, um klagend und trauernd und zugleich hoffend Gestorbene in Menschenwürde zu verabschieden.

Was die Idee einer Seuche oder eines anderen Ereignisses als „Strafe“ oder Tat Gottes endgültig verbietet: 

Jesu Kreuz.

Seit Jesu Kreuz denken wir mehr oder weniger überzeugend nach, wie man dieses Geheimnis, diesen Grund einer endgültigen neuen Liebesbeziehung zwischen Gott und aller Welt am Besten in Worte fassen kann.

Ein Versuch ist:

Jesus versöhnt damit Gott mit uns. Alle „Sünde“ ist damit vergeben.

D.h. im Klartext: Es kann, wenn wir Karfreitag (beglaubigt durch Ostern) ernst nehmen, keine Rede mehr davon sein, dass Gott auf diese Weise agiert, gar straft, wen auch immer.

Ich kann Gott klagen, ich kann ihn fragen, ich kann auf ihn hoffen – und kann mich ermutigen lassen, soviel es an mir liegt und wie ich kann, Betroffenen beizustehen. Oder zulassen, dass andere mir Beistand leisten (das ist ja bisweilen auch schwer).

Und so bleibt eine Pandemie ein Naturereignis ein Naturereignis ein Naturereignis und , wie ich glaube (auch wenn ich mit der Jahreslosung oft rufe: Ich glaube, hilf meinem Unglauben): Gott richtet uns auf und her zu Mitmenschlichkeit. Immer neu. Damit wir solche schweren Zeiten besser bestehen.

Damit ein Naturereignis Raum gibt für heilere Zukunft.

Zuletzt noch ein Gedanke:

Wenn Gott diese Welt ganz und gar liebt, so dass wir sie als Schöpfung wahrnehmen, ist auch ein Virus ein Geschöpf.
Wie alles andere auch.

Und darüber muss ich jetzt erst noch ganz viel nachdenken.

Gott befohlen
Ihr
Pfr. Neugber

Negativ und Positiv, Virus und Anti-Virus

Ältere (so wie ich) erinnern sich noch gut. Da gab es Zeiten, da wurde für Bildaufnahmen Zelluloid verwendet. Das nannte man Film. Und zunächst entstand nach der Aufnahme und der Fixierung ein Negativ. D.h., alles war umgekehrt zu sehen: Schwarz war weiß und umgekehrt, und nach der Erfindung des Farbfilmes sah man auch die Farben „spiegelverkehrt“. Erst nach einem weiteren Schritt wurde daraus ein Positiv, man sah ein Bild, einen Film, wie gewohnt. Also so z.B.:

Negativ:        

Positiv:

Zur Zeit frage ich mich bisweilen: Was für ein Film läuft da gerade ab? Sitze ich im falschen?

Doch es ist natürlich. Ein Virus will leben und nutzt uns dazu. Aber wir wollen auch leben und versuchen, dem irgendwie gewachsen zu werden.

Ein Virus befällt Milliardenfach einen Menschen, und es kommt ihm nicht darauf an, ob ein paar Milliarden einzelne Viren dabei umkommen.

Wir Menschen könnten nun als Menschheit (wie vermutlich Fledermäuse als immune erstüberträger) ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende  abwarten, bis wir gelernt haben, mit diesen Virus im Körper zu leben. Vielleicht, wie in der bisherigen Jahrhunderttausende währenden Vergangenheit sogar gut zu leben. Ja, mancher Virus, einst unheilbringend, hat sich in uns so eingenistet, dass er uns sogar nützt.

Aber dafür müssten uns Einzelschicksale egal sein. Sind sie aber nicht. Für uns Menschen ist jedes Leben wertvoll und rettenswert, so gut wir es vermögen. Das ist auch gut biblisch-christlich.

Forscher sind sich immer noch unschlüssig, was denn ein Virus eigentlich ist. Viele konstatieren: Ein Virus ist eben ein Virus, nicht vergleichbar mit anderen Lebensformen. Allerdings habe ich in der Fachliteratur auch gelesen: Was wir als Viren bezeichnen, sind lediglich Erbgutüberträger. Samen sozusagen. Gemeinerweise (und anders als Bakterien oder Schmarotzer) dringt das Erbgut in eine Zelle ein und verwandelt diese zelle in das eigentliche lebendige Virus. Die Zelle produziert nun weitere „Samen“ = Viren. Und so, wie z.B. bei einer Mohnblume dann die reife Kapsel aufspringt und danach die Pflanze vergeht, so springt die Zelle auf und schleudert weitere Millionen und mehr „Viren“ in die Umgebung. Auf dass sich weitere Zellen verwandeln in Virenproduktionsanlagen.

Wenn ich also von einem Virus befallen werde, wird ein Teil meines Körpers, also alle befallenen Zellen, zum „Virus“ – und das bin nicht mehr „Ich“. Sondern ich trage in mir einen bisweilen (und bei Covid-19 ist es so) lebensgefährlichen Feind. Den ich mit aller Macht und Hilfe hoffentlich wieder loswerde. Auch mithilfe der Abwehrkräfte – und einer guten Medizin. Die aber erst noch gefunden werden muss. Denn ich will leben. Wie du und alle anderen zählt mein Leben doch, oder? Das Gemeine: So ein Virus kehrt wieder, in mutierter Form und macht es dann erneut schwer.

So kurz, so weit, so natürlich, so negativ.


Und nun für mich wunderbar positiv: Heute ist der Gedenktag an einen Teil der Vorweihnachtsgeschichte.

Der Erzengel Gabriel kommt zu einer jungen, unverheirateten, aber wohl liierten Frau Maria und verkündet ihr, durch die Kraft des Hlg. Geistes (also Gottes) würde sie schwanger gehen, neues Leben in sich tragen, und daraus würde „Jesus“, der Messias seines Volkes, der Heiland aller Völker.

Das ist nachzulesen in Lukas 1, 26-38, und der Gedenktag heute heißt darum „Verkündigung des Herrn“, auch „Maria Verkündigung“.

Und da wird ein Positiv aus dem Negativ. Ein anderes Bild vom Leben zeichnet sich ab.

Wir werden „befallen“, „infiziert“, aber nun nicht von einem mutierten Virus milliardenfach, sondern von dem einen Gott. Unwandelbar in einer seiner Haupteigenschaften: Seiner Liebe. Nicht der „liebe“ Gott, der gefälligst so zu sein hat, wie wir ihn gerne hätten, sondern der Gott der Liebe, der überwältigend anders ist. Allmächtig in Ohnmacht, gegenwärtig da, wo er abwesend ist.

Dieser Gott, verliebt in unsere Welt, verliebt in uns Menschen, der „infiziert“ einzelne Menschen. Sie finden sich als sein Volk wieder und „brüten“ unter sich seine Weisheit, seine Gebote, seine Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Mitmenschlichkeit aus. Davon zeugt der erste Teil der Bibel, davon zeugt Israel.

Und dieser Gott begibt sich ganz in unser Menschsein, infiziert die Menschheit mit sich selbst. Um ganz zu sich zu kommen. Um ganz da zu sein, auch bis in die letzte Phase eines Lebens: Den Tod. Dieser Infektionsweg heißt für uns Christen: Der Mensch Jesus. Der wiederum nach seinem Tod als Lebendiger andere Menschen mit sich infiziert. Die nennen sich dann Christen. Ein Infektionsweg: Die Taufe in seinem Namen, und jeder Gottesdienst sozusagen eine Auffrischung.

In jedem kommt Gott zu sich selbst – und damit findet ein Mensch zu sich selbst als Kind Gottes. Und kann in jedem anderen das sehen. Und sich entsprechend verhalten. Mit-menschlich eben.

Freilich bedeutet das Abschied von alten Gottesbildern, mit denen Menschen infiziert sind. Und nun geheilt werden. Da ist kein Allmächtiger, der dann eingreift, wenn wir mit unserer Weisheit am Ende sind. Oder da, wo wir feststellen müssen, wie sehr wir ein Teil dieser Natur sind (und auch das macht so eine Pandemie gnadenlos deutlich). Da ist kein „lieber Gott“. Dafür ist in jedem ein Gott der Liebe, ein Mensch wie Jesus, und so wächst in einem Christen eine ganze Verantwortung für andere. Zugleich fühlt er sich über alles geliebt und gehalten, braucht deswegen keine dauernde Wertschätzung von anderen, sondern hat ein gesundes Selbstwertgefühl, um demütig mutig mit anderen umzugehen und zugleich sorgsam mit sich selbst. Also: Gottes Weg der Liebe über alles zu respektieren und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das funktioniert auch da, wo man mal mit Abstand am besten miteinander umgeht.

Ich schrieb von „befallen“ und „Infektion“ – traditionell und vermutlich auch besser nennt man es „Begabung“ und „Inspiration“. Ich erlebe, wie viele Mitmenschen, auch solche, die anderer Weltanschauung sind, in diesem Sinne begabt und inspiriert sind. Die vernünftig die Gebote der Stunde und Wochen befolgen und zugleich solidarisch ihre Hilfe anbieten, wo und wie sie können. Die mit Mitgefühl für andere sorgen, und sei es, dass sie schlicht Rücksicht auf andere nehmen, etwa beim Einkauf oder Spazierengehen.

Die Geschichte vom heutigen Tage aus dem Lukasevangelium ist ein Bild für das Gemeinte. Es geht nicht (allein) darum, ob und wie Maria ohne Zutun des Joseph schwanger wurde. Im Bild geht es darum, wie Gott mit seiner dann so verletzlichen und zugleich lebensstarken Menschlichkeit  sich mit sich selbstuns begabt und inspiriert – und das nicht wider Willen, sondern im ganzen Respekt vor unserer Freiheit. Wir können auch „Nein“ sagen. Oder eben wie Maria: Ja, mein Gott, mit dir und deiner Liebe zu allem will ich schwanger gehen, denn dadurch finde ich zu mir selbst und dem Sinn meines Lebens. Was auch immer kommt.

Der Mystiker Meister Eckart drückte es so aus:

Ich in dir
Du in mir
Wir bin eins.

Dazu aus dem „Evangelischen Lebensbegleiter“ (Gütersloh 2007)
ein Gebet:

Heute, mein Gott,
verkündet dein Engel
Deinen Weg in unser Leben.
Heute kommst du herab zu uns,
nimmst dich unsrer Schwachheit an
wirst Mensch.

Heute, mein Gott,
sprich dich hinein in mein Leben,
vertraue Dich mir an.

Heute, mein Gott,
erwähle mich zu deiner Wohnung,
Mensch zu werden
in Dir.

So besehen sitzen wir im richtigen Film, auch wenn uns die Wirklichkeit irgendwie verkehrt vorkommt.

Gott befohlen
Ihr
Michael Neugber