Aus der Andacht am Reformationstag 2020

 

Lesung: aus dem Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5:

Als Jesus das viele Volk sah, ging er auf einen Berg. Und er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Halleluja! Gott, der HERR, ist Sonne und Schild; / der HERR gibt Gnade und Ehre.* Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen. Halleluja!

Impuls zu Matthäus 10, 26b-33

Jesus spricht:

„Nichts, was verborgen ist, bleibt verborgen; alles wird offenbart werden. Und nichts, was geheim ist, bleibt geheim; alles wird bekannt gemacht werden.Was ich euch im Dunkeln sage, das sagt am hellen Tag weiter, und was euch ins Ohr geflüstert wird, das verkündet in aller Öffentlichkeit.Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten können – die Seele können sie nicht töten. Fürchtet vielmehr den, der Leib und Seele dem Verderben in der Hölle preisgeben kann.Denkt doch einmal an die Spatzen! Zwei von ihnen kosten nicht mehr als einen Groschen, und doch fällt kein einziger Spatz auf die Erde, ohne dass euer Vater es zulässt. Und bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Seid darum ohne Furcht! Ihr seid mehr wert als eine noch so große Menge Spatzen.Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen.“

„Wendet euch ab von eurem bisherigen Lebenswandel. Wendet euch neu Gott zu. Lebt, tut, was er will. Denn Gottes Reich ist nahe herbeigekommen. Sein Christus ist schon unter uns“. So kündete einst Johannes der Täufer. Er sah das Ziel aller Welt kommen und sorgte sich darum, dass möglichst viele auch an dieses Ziel kommen: Leben ganz mit Gott. 

Und viele aus Israel ließen sich von dieser Botschaft bewegen.

„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Denn das Reich Gottes ist schon mitten unter euch“. So sprach Jesus. Das Ziel aller Zeiten, neues Leben mit Gott, das ist gleichsam um die Ecke. Noch ist es verborgen, aber es wirkt schon, da, wo Menschen um Gottes Willen neu miteinander leben können.

Und viele ließen sich davon bewegen. 

Nicht alle. Wir kennen die Geschichte von Jesu Passion. 

Doch Gott gibt nicht auf.

„Darum geht in alle Welt, seid meine Zeugen, gewinnt Menschen aus aller Welt für mich…“ beauftragte der auferstandene Jesus seine Jünger*innen.

Bewegt davon ging auch der zum Apostel Jesu bekehrte Paulus auf Weltreisen. Er trotzte Gefahr und Not und Tod und gründete Gemeinden.

Im Mittelpunkt stand: Tu, was Gott will – halte dich an Jesus. Sei erfüllt von dieser Liebe – und dann bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. 

Denn Gottes Ziel mit der Welt ist bald erreicht, und darum tue dir einen Gefallen: Lass dich von Jesus an dieses Ziel bringen. Ansonsten verpasst du ein ganzes Leben. 

Immer wieder nahmen Christen sich diese drängende Botschaft zu Herzen. Und als die Zeit kam, da aus den Christengemeinden Kirche von Reichs wegen geworden war, richtete sich ihr Blick zunehmend kritisch auf die Gestalt, die Kirche abgab: War das noch Gemeinde Jesu? Verführte diese Kirche noch dazu, dem Ziel aller Welt und Zeit, also Gottes Liebe über den Weg zu trauen? Führte diese Kirche noch dazu, sich mit allem im Leben und Sterben dem Weg Jesu anzuvertrauen?

So wurde der Ruf immer wieder laut und mit der Zeit lauter: Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche Jesu ist. Und diese muss immer neu gesucht, gefunden, gelebt werden.

Reformation.

Auch Martin Luther hörte für sich diesen Ruf in die Nachfolge Jesu.

Nicht nur für sich. Dafür lagen ihm seine Mitmenschen zu sehr am Herzen.

Als Kind seiner Zeit konnte Martin Luther sich aber nicht vorstellen, dass Gott auch mit anderen Sorten von Kirche und Gemeinde, oder gar mit anderen Religionen, seinen Weg ging. Außerhalb der rechten Kirche gäbe es kein Heil, kommt niemand an das Lebensziel, ins Leben in Gott. 

So wendete sich Martin Luther nicht nur gegen römisch-päpstliche Diktate, nicht nur gegen aufkommende andere reformatorische Kirchen, sondern ganz übel auch gegen jüdische Gemeinden, als er sah, dass er sie nicht zu Christus bekehren konnte.

Und die Rede Jesu, wie Matthäus sie überlieferte, wie ich sie gerade vorlas, scheint ihm recht zu geben.

Doch Jesus sprach einst als Jude zu Juden. Und er eröffnete zuvor seine Bergpredigt mit den Seligpreisungen, die vorhin zu hören waren. 

Sich zu Jesus bekennen – das muss kein rechtes Glaubensbekenntnis sein, kein rechtgläubiger Gottesdienst – sondern selig die Barmherzigen, selig die Friedfertigen und so weiter.

1944. Dietrich Bonhoeffer sann nach: Was heißt, Jesus nachfolgen in dunkler Zeit? Wenn Kirche sich mal wieder hoffnungslos verirrt hatte? Wenn Kirche Jesu dennoch lebt – und sich als bekennende Kirche ausdrückt?

Auch Dietrich Bonhoeffer schrieb: Außerhalb der Kirche kein Heil. Aber er meinte die Kirche Jesu – und die ist nicht identisch mit einer Kirche von Reichs wegen.

Kirche Jesu findet da statt, wo Jesus in dieser Welt unterwegs ist. 

Ihn wahrzunehmen, seinem Weg zu folgen im Beten und Tun des Gerechten, da liegt Zukunft, gerade dann, wenn die Mächte der Finsternis sich todgerannt haben. Wenn alles in Schutt und Asche zu liegen scheint.

Und so erhoffte Dietrich Bonhoeffer eine Kirche, die wie Jesus sich selbst verschenkt, die auf alle überlieferten frommen Floskeln verzichtet, sondern eben das Leben tut, wie Jesus es tun würde.

Niemöller, der bei der Gründung unserer EKHN maßgeblich mitwirkte, und deren erster Kirchenpräsident wurde, fragte deshalb immer wieder:

Was würde Jesus dazu sagen?

Und zugleich hat die EKHN Teil an der Tradition „Volkskirche“. Sie hat immer noch teil an der Tradition, als Menschen gar nicht gefragt wurden, ob sie das alles glauben oder dazugehören möchten. Menschen in Europa  hatten über Jahrhunderte hinweg „Reichskirche“ zu sein. Wer anderem angehören wollte, wurde bestensfalls geduldet. Die Geschichte der europäischen Juden verdeutlicht das. Gott sei’s geklagt. 

Doch spätestens seit der Zeit der Weimarer Republik ist mit dieser Art von Kirche eigentlich Schluss. Doch bisher lebt sie noch. Lebt sie?

Bange Frage. Ausdruck ist die Kirchensteuer. Mithilfe der Finanzämter werden die Mitgliedbeiträge erhoben (und der Staat verdient gut mit).  Wer sich dem entzieht, gilt als Steuersünder. Es sei denn, er ist ausgetreten. Dann gilt er als Kirchenfern. Entscheidend ist also nicht die Taufe auf Jesu Namen, sondern die Geldzahlung. Gesetzt den Fall, jemand würde sagen: Ich zahle nicht mit Geld, ich zahle mit meinem Engagement (also mit Zeit und Kraft) – das zählt nicht.

Was würde Jesus dazu sagen?

Und viele, immer mehr, treten aus. Und Kirche Land auf (und Land unter?) sorgt sich: Wie können wir uns retten, wenn etwa 2060 nur noch eine Minderheit im Lande Mitglied einer evangelischen Kirche ist?

Und Erfindungen von Kirchenrettungsprogrammen laufen auch Hochtouren. Klingen z.T. verführerisch. Weswegen sorgen wir uns eigentlich nicht um die Zukunft der anderen Mitchristen in den anderen Konfessionen????

Ist das Reformation? 

Was würde Jesus dazu sagen? 

Wo geht er uns voran in dieser Zeit – und an wessen Seite steht er?

Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit… da vielleicht?

Selig die Friedfertigen, selig die Barmherzigen – selig die, die ihre Frau, ihren Mann (oder beides zugleich) stehen im Einsatz für die Nöte anderer, im Einsatz für Not-Wendiges, oft ehrenamtlich, oft anonym, oft woanders als in Kirchturmnähe, oft unterbezahlt – in Geflüchtetenlagern, in Heimen, in Krankenhäusern, in Rettungsdiensten oder zur Zeit etwa in den Netzwerken, wo es um die Versorgung der Menschen geht, die aus alters-oder anderen Gründen zuhause bleiben müssen… – ich habe den Verdacht: Da geht Jesu voran, da ist seine Kirche, und dies gilt es, als Christen zu bezeugen, in Wort und Mittat.

Seit Jahrhunderten wird geklagt, dass Menschen immer weniger vom Christentum wissen. In der Tat, da gab und gibt es Gezeiten, wie Ebbe und Flut. Und immer wieder beginnen Menschen, sich neu zu informieren, was da wirklich in der Bibel steht und was wirklich gut ist für Menschen und wie es wirklich Freude macht, als Christ zu leben. Und viele organisieren sich neu. Z.B. in sogenannten Freikirchen. Viele jedoch wissen nicht viel – und lassen sich dennoch von ihrem Herzen bewegen und tun, was recht ist. Selig die, die sich um Menschen kümmern, die arm dran sind…  Sie wissen doch ganz viel – eigentlich alles, was not-wendig ist.

Kirche Jesu lebt. Manchmal – vielleicht oft – außerhalb der Formen von Volkskirche, gleich welcher Konfession. 

Darum seid ohne Furcht. Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde ich mich vor Gott bekennen.

Ich nehme Menschen wahr, die solches leben. Manchmal sogar, obwohl sie sich Atheisten nennen oder zu einer anderen Religion gehören.

Hinwiederum nehme ich wahr, wie Menschen, die eigentlich engagierte Christen sind, in der Öffentlichkeit davon schweigen. 

Ich lese in einem Buch von einem Physiker, also Naturwissenschaftler, wie er Bewunderung hegt für die lebendigen, spirituellen Impulse, die von Christen (und anderen Gläubigen) ausgehen. Fast traurig schreibt er in seiner Veröffentlichung, ihm fehle diese religiöse Ader.

Ich lese in der Bibel, wie Paulus beim Stichwort „Glaube“ auch dies schrieb: Glaube ist eine besondere Gnadengabe wie etwa die Kunst, unterrichten zu können und anderes Geistreiches. Wer glaubt, tut dies gewissermaßen für andere mit.

Wer sich als Christ versteht, soll also getrost öffentlich dazu stehen, wie auch immer. Vielleicht oft mehr durch Tat als durch Rat.

Ihr sollt meine Zeugen sein !

Wer Jesus vertrauen kann und Gott glaubt – kann, darf, ja muss das nicht verstecken, im Gegenteil. Unsere Welt zumindest in Europa lässt das doch zu! Gott sei Dank sind die alten Zeiten der Intoleranz doch vorbei! Und wo sie wieder kommen wollen, da können Christen doch sagen: Jetzt erst recht sind wir so frei, Jesus zu bezeugen und damit aber auch die Freiheit der Menschen in Sachen Glaube und Religion! 

Träten wir für diese Freiheit nicht ein, würden wir an unserem eigenen Christsein vorbei leben. 

Also habt keine Furcht. Im Zweifelsfall glaubt ihr für Ungläubige mit. (Wobei ich persönlich nicht so recht weiß, was ein „Ungläubiger“ sein soll)

So höre ich Jesu Worte neu: Folgt mir nach, sucht mich auf, wo ich in dieser Welt zugange bin – da ist Gottes Reich nahe. Darum seid ihr und die anderen nicht Gott fern – und schon gar nicht Kirchenfern.

Das wäre mein Traum von Kirche. Da gibt es nicht mehr die Insider und Outsider, die Nahen und die Fernen. Da leben alle die, denen das Reich Gottes nahe ist. Und das sind mehr, als wir ahnen…

Selig sind sie.

So wünsche ich uns einen getrosten Weg in die Reformation der Kirche als Neuentdeckung, wo sie gerade ist: Kirche Jesu. 

Und dieser Friede Gottes, der unser Leben gründet, bewahre uns mit Leib und Seele, Haut und Haaren, Herz und Verstand in Jesus Christus.