Auf dem Weg zu Palmsonntag 2020 – Gedankensplitter zu den biblischen Texten I

Jedem Sonntag sind ein Psalm, ein Abschnitt aus den Evangelien als Evangelium zum Sonntag, ein Abschnitt aus dem Ersten Testament (früher „Altes Testament“), ein Abschnitt aus einem der neutestamentlichen Briefe und noch drei weitere Bibeltexte zugeordnet.

Der Psalm: Ps. 69 in Auswahl:

2 Gott, hilf mir!
Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle.
3 Ich versinke in tiefem Schlamm,
wo kein Grund ist;
ich bin in tiefe Wasser geraten,
und die Flut will mich ersäufen.
4 Ich habe mich müde geschrien,
mein Hals ist heiser.
Meine Augen sind trübe geworden,
weil ich so lange harren muss auf meinen Gott.
8 Denn um deinetwillen trage ich Schmach,
mein Angesicht ist voller Schande.
9 Ich bin fremd geworden meinen Brüdern
und unbekannt den Kindern meiner Mutter;
10 denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen,
und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.
14 Ich aber bete, HERR, zu dir zur Zeit der Gnade;
Gott, nach deiner großen Güte erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.
21 Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand,
und auf Tröster, aber ich finde keine.
22 Sie geben mir Galle zu essen
und Essig zu trinken für meinen Durst.
30 Ich aber bin elend und voller Schmerzen.
Gott, deine Hilfe schütze mich!

Der ganze Psalm ist lang, eine lange Klage. Auf Anhieb berührt er mich in der Lage, in der wir alle stecken. Ich brauche keinen Nostradamus, um zu denken: Aha, da hat einer die Erschütterung schon vorausgesagt, die zur Zeit die ganze Welt betrifft. Mir geht es bei Psalmen so: Plötzlich werden sie „mein“ Gebet.

In allem, was diesen Psalmbeter einst bewegt haben muss, und wo er mich bewegt, höre ich die tiefe Not der Isolation, der Einsamkeit, der Desintegration.
Plötzlich ist man wie abgeschnitten von allem, was das Leben „normal“ macht: Familiäre, berufliche, nachbarschaftliche und überhaut sonstige Beziehungen und Kontakte. Auch der zu Gott ist gestört.

Ich spreche die Worte nach und spreche sie, wird mir bewusst, auf einmal für die Menschen, die sowieso schon vom normalen Leben getrennt waren und nun noch mehr: Menschen in Altenheimen mit Demenz, Flüchtende, Obdachlose, Vereinsamte aus allerlei Gründen.
Ich denke an all die Bemühungen um Integration: Integrative Schulklassen, Kindergärten, Arbeitsstätten… An Menschen, die mühsam wieder ins Berufsleben reintegriert werden mussten.
Und nun?
Wie wird es sein, wenn die Lage sich beruhigt? Es wird nicht so sein wie früher,
auf einmal müssen viele von uns sich re-integrieren (lassen).

Und dann ist da die Hölle auf Erden: Da, wo medizinisches Personal plötzlich entscheiden muss, wer noch in die Intensivbehandlung darf und wer „aufgegeben“ werden muss.
Ich höre Ideen, wie bald nur noch Risikogruppen gleichsam in Quarantäne leben sollen – wer legt es fest?
Unbewusste „Hexenjagd“?

Ach Gott…
Ein tiefer Seufzer, eine Bitte um Reintegration.
Der Beter wendet sich in allem an Gott, sucht seinen seelischen Schutz.
Er will sich wiederfinden in seiner Würde.
Letztlich will er wieder wahrgenommen werden als Teil seiner Gesellschaft (Familie, Glaubensgenossen, Nachbarschaft, Kollegen und so weiter) und umgekehrt diese auch wieder erleben als ihm zugewandte Mitmenschen.
Hat er sie eigentlich wirklich als „feindlich“ erlebt, oder machte ihn seine Krankheit (seine Schmerzen) so misstrauisch?
Er will davon geheilt werden, auch wenn er krank bleibt.

Er lässt Gott nicht los, er behaftet ihn bei seinen Verheißungen.
Die Evangelisten „hörten“ dieses Sehnen aus Jesu Mund, aus dem, was er erlitt. Und deswegen wird geschildert, dass man als Jesu letzten Schluck Galle ihm zu trinken gab bzw. Essig… und dass er „Schmach“ trug, da ein Tod am Kreuz das schmachvollste war, was Römer anderen antaten. Wer am Kreuz hing, war ehrlos. Entwürdigt.

Wenn ich diese Worte bete, bete ich sie nicht nur für mich oder für jemand anderes in dieser Zeit – ich bete sie mit Jesus. Ob Gott mich hört oder auf die anderen dort sieht, weiß ich nicht im Sinne von „Wissen mit dem Kopf“. Aber wenn Jesus unsere Bitte um integriertes Leben in Gottes Ohr ist, dann weiß ich es wieder – im Herzen.
Und ich ahne: Wenn wir zur „Normalität“, auch zur kirchlichen Normalität zurückkehren, darf es nicht so weitergehen wie bisher. Wir werden auf allen Ebenen „integrativ“ agieren müssen.
Dafür sei Gott, der uns alle haben will, mit uns. Und als Begleitmusik zu diesem Psalm höre ich die vielen Beispiele, wie Menschen es nun schaffen, Solidarität als Grundprinzip unserer Welt, unserer Freiheit, unserer Demokratie neu zu entdecken mit wunderbaren Aktionen und jetzt schon dadurch dafür sorgen, dass wir ein Stück getroster den Situationen ins Auge sehen können, wo uns „das Wasser bis zum Hals steht“. Und ich denke da nicht nur, aber auch an unser (Über-) Leben auf diesem Globus.
„Gott, nach deiner großen Güte, erhöre uns mit deiner treuen Hilfe!“