Predigt zum Sonntag Rogate 6.5.2018 über Koll. 2a e.a. (Pfr. M. Neugber)

Lasst nicht nach im Gebet! Seid beharrlich beim Gebet! Betet ohne Unterlass!

Ich will Gott allezeit lobsingen!

Solche und ähnliche Aufforderungen begegnen einem immer wieder in der Bibel. Und sie sind ernst gemeint.

Nun gibt es tatsächlich klösterliche Gemeinschaften, da machen Nonnen und Mönche nichts anderes als beten. Wieder andere beten immerhin einmal täglich. Und andere lassen beten. Sie bezahlen Geld, sie spenden etwas, und dafür beten andere ohne Unterlass. Auch eine Form der Arbeitsteilung.

Die nur einen Haken hat: Sie bringt nichts. Zumindest dem nicht, der beten lässt. Fragt sich nur, was die, die auffordern, ohne Unterlass zu beten, unter Gebet verstehen.

Wir kennen Gebete zu bestimmten Anlässen. Tischgebet, ein Psalm, im Gottesdienst auch ein Klagegebet, ein Gotteslob, Fürbitten…

Wenn man nun nicht gerade in einem Kloster lebt, in dem nur gebetet wird, und es gibt ja durchaus Klöster, da wird auch gearbeitet, dann wäre es schon merkwürdig, wenn ein Glaubender ständig betet. Stellen Sie sich vor, sie kommen in ein Geschäft, kaufen etwas, gehen bezahlen, und anstelle eines Bitte sehr oder so hören sie z.B. ein Vater Unser oder der Verkäufer bewegt stumm die Lippen, während er vielleicht eine Gebetskette durch die Hände gleiten lässt.

Aber im Ernst: Es gibt tatsächlich Menschen, die beten ohne Unterlass auch außerhalb von Klostermauern. Denn Beten heißt im Grunde: Ich öffne mich der Gegenwart Gottes. Oder eines göttlichen Wesens. Oder dem Urgrund all dessen, was ist.

Ich bin mir dieser allumgreifenden Gegenwart bewusst. Ich brauche da nichts zu tun, nichts zu beurteilen, kann in dieser Gegenwart einfach da sein und leben. Menschen, die so beten, üben das jahrelang. Sie nehmen sich täglich eine Zeit, in der sie nichts anderes tun als da sein und Gottes Gegenwart nachspüren. Diese Urform des Gebetes nennt man auch Kontemplation, Meditation.

Sie wird geübt von Menschen in allen Religionen. Bekannt dafür sind z.B. Buddhisten, Zenmeister. Doch auch unter uns Christen gibt es welche, die es üben und ausüben. Etwa als Herzensgebet, auch genannt: Jesusgebet. Sie üben solange, bis fast automatisch wie das Atmen solch ein ständiges Gebet sie erfüllt. Also mit jedem Atemzug – große Meister mit jedem Herzschlag – Gott angerufen, Gottes Gegenwart sich geöffnet wird, oder mit jedem Atemzug in einem als Gebet erklingt: Jesus Christus, erbarme dich meiner. Wobei mit Erbarme dich nicht die Klage eines Sünders gemeint ist, sondern der ursprüngliche Sinn: Sei mir gegenwärtig.

Ich da – du da. Meister Eckart hatte dieses Gebet: Ich in dir – du in mir – wir bin eins.

So ein tiefes Leben in der Gegenwart Gottes (oder wie auch immer man es sich vorstellt) vertieft das Leben ungemein. Auch das Arbeitsleben, auch den Urlaub, auch das Schlafen und die Begegnungen mit anderen. Denn im Gebet spüre ich nicht nur der immerwährenden Gegenwart Gottes nach – ich bin auch ganz da bei dem, was ich tue oder lasse. Sogar ein banaler Vorgang wie das Einräumen einer Spülmaschine ist dann mehr als lästige Pflicht, die ich mache und im Kopf tausenderlei Dinge habe, die mich auch noch beschäftigen. Ich bin vielmehr ganz bei der Sache, ich lebe. Jetzt. Hier. Ganz und gar.

Das ist – wenn es gelingt – ein beglückender Vorgang. Und erst recht gilt das für Begegnungen mit anderen, wer auch immer. Ganz da sein, tiefer Friede im Herzen, offen für das, was einen anderen bewegt. Denn all das, was ich klagen, bitten, fordern möchte, ist bereits geklagt, gebeten, gefordert.

Mir gefällt das von Meister Eckart schon: Ich in dir – du in mir –  wir bin eins.

Diejenigen in der Bibel, die also rieten: Betet ohne Unterlass – sie wussten, was sie schrieben und sagten. Sie lebten in solcher engen Beziehung zu Gott, im ständigen Gebet, ein Gebet, das keine Worte mehr braucht. Das aber dann, wenn gemeinsame Gebetszeit da ist, etwa Gottesdienst, seine Worte findet.

Gemeinschaftliche Worte.

Und Jesus, der gemeinschaftliche Worte lehrte, das Vater Unser, der ist sozusagen das Urbild solchen Gebetes für uns: Er ist ganz und gar Gebet – ganz und gar Gegenwart Gottes in sich als Mensch mit Leib und Seele.

Christen, in seinem Namen getauft, sollen an diesem tiefen Leben teilhaben, einem Leben, in dem der Tod nicht mehr das letzte Wort hat. Einem Leben, in dem alles Gott – sei – es geklagt mündet in jenes zutiefst friedvoll-frohe „Ich in dir – du in mir – wir bin eins.“

In die ewige Anbetung Gottes, um es traditionell aus zu drücken. Wobei das nicht langweilig ist – genauso wenig langweilig, wie wenn ich einer Angebeteten mich ganz zuwenden darf.

Innig leben. Und zwar jetzt schon.

Und ich gebe zu: Ja, es tut einfach gut – und zugleich ist solches Beten zunächst echte Arbeit. Eine lebenslange Übung. Man kann damit täglich neu anfangen. Macht aber nichts, denn zugleich braucht man sich vor Gott nichts zu schämen. Sondern fängt einfach neu an, vor Gott und so in der Welt ganz da zu sein. Herzschlag für Herzschlag.

Und so beobachte ich, dass sogar junge Menschen Geld ausgeben, um an Kursen teilzunehmen, in denen genau das eingeübt wird.

Darunter auch Kurse von Christen für Christen.

Manche fahren auch nach Indien. Oder besuchen Zenkurse, z.B. Zen-Bogenschießen. Die wenigsten wissen übrigens: Die wirklich großen Meister der sogenannten Kampfsportarten – Judo, Karate, Aikido – tun das nicht, um zu kämpfen oder nur um Sport zu betreiben. Für sie ist es ein Ausdruck, ganz gegenwärtig auch in der schnellen Bewegung sowie in der ganz langsamen Bewegung zu sein. In der Gegenwart des allumfassenden Urgrundes. Darum beten sie vorher und nachher und ihre Bewegung ist selbst ein Gebet – um Kampf zu vermeiden. Zumindest habe ich es so von einem der deutschen Großmeister des Aikido gelernt.

Aber darum ging es den Menschen in der Bibel nicht. Ihnen ging es um ein inniges Mit-Gott-leben, weil dieses Leben auch zu einem friedvoll-innigen Mit den anderen leben führt.

Mit einem Leben vor dem Tode, in dem schon das Leben nach dem Tode aufscheint.

„Ich in dir – du in mir – wir bin eins.“

Betet ohne Unterlass. Seid beharrlich im Gebet. Was es da nun schwer macht, ist unser Bild von Gott.

Kinder haben es da nur scheinbar leichter. Für sie ist Gott jemand über den Wolken, den man anrufen kann, wenn man ihn braucht, und der dann Wünsche erfüllt.

Aber was, wenn er genau das nicht tut? Man mag sich trösten mit dem Bonmot von Dieter Hildebrandt: Gott gibt uns nicht das, was wir brauchen, dafür aber auch nicht das, was wir verdienen.

Oder frommer, etwa wie Dietrich Bonhoeffer es ausdrückte: Gott gibt uns nicht das, was wir uns gerade wünschen, dafür das, was wir wirklich brauchen. Und DB dachte präzise an Gottes Gegenwart auch im unergründlich-unermesslichen Leid.

Andererseits, allen voran Jesus, hatten die biblischen Lehrer des Gebetes, etwa die Psalmisten, die Erfahrung gemacht und dann weitergegeben: Gott ist persönlich ansprechbar. Und Jesus lehrte sogar, Gott Papi zu nennen. Der Russe würde liebevoll sagen „Väterchen“.

Da haben nun viele unserer Zeitgenossen ein großes Problem. Für sie ist Gott weit weg. Zu weit weg. Unvorstellbar weit weg. Dem gegenüber behaupte ich, auch aufgrund der Erfahrung von Lehrern des Gebetes vor mir: Gott ist jedem von uns näher als man sich selbst. Gott ist absolut gegenwärtig in allem.

Das macht Gott zunächst unvorstellbar groß und klein zugleich. Gott, so lehrt es uns die Bibel, steht hinter allem. Wenn die Bibel Gott den Schöpfer oder Dirigent der Geschichte nennt, meint sie: Gott ist nicht ein Teil unserer Welt. Er ist auch nicht irgendein Prinzip der Welt, wie etwa ein Naturgesetz. Er ist kein Uhrmacher der Schöpfung, der sie einmal angestoßen hat und seitdem läuft sie und läuft sie, bis sie irgendwann abgelaufen ist.

Gott ist nicht von dieser Welt und nicht von allen möglichen denkbaren sonstigen Welten. Gott ist allumfassend und somit ist er ewig. Das heißt: Zu jeder Zeit, in jeder Zeit, alldurchdringend gegenwärtig. Für uns Christen ablesbar in Jesus, dem Menschen: Gott ist bis in seine letzte Faser gegenwärtig, und somit ist auch Jesus trotz seines Todes gegenwärtig. Hier und jetzt. Und zugleich gestern und morgen.

Wie Gott.

Das sprengt jede Vorstellung, zugleich muss Gott nicht die Rolle des Lückenbüßers spielen, wenn uns etwas in dieser Welt noch rätselhaft unerklärlich erscheint.

Gott ist auch gegenwärtig in Dingen, die wir auch – ich betone auch – naturwissenschaftlich oder sonst wie erklären können. Und zugleich in Gottes Gegenwart gewinnt es einen wunderbaren poetischen Zauber. Eine Rose etwa, der Schlag einer Nachtigall, die Augen eines Mitmenschen, in die man sich vertieft…

Oder Liebe. Am Besten Liebe.

Und diesen Gott nun duzen… Als Person wahrnehmen. Als persönlichen Ansprechpartner. Als Persönlichkeit.

Auch hier bin ich einem meiner Lehrer dankbar. Der gab zu bedenken: Wir tun uns sicher schwer, ein einzelnes Bakterium Person zu nennen. Und auch eine milliardenfache Versammlung von Bakterien nicht. Auch bei z.B. Regenwürmern hätten wir da Bedenken. Obwohl – inzwischen haben Biologen herausgefunden: Es gibt sogar unter Regenwürmern Charaktere. Übrigens auch bei Bäumen, Buchen etwa.

Haben wir es nun mit sogenannten höheren Säugetieren zu tun, Elefanten, Hunde, Katzen – da fällt es uns schon leichter, von Persönlichkeiten zu sprechen. Wer einen Hund hat, weiß, was ich meine. Und mein Kater ist ein ausgesprochener Feigling, verglichen mit dem des Nachbarn. Je näher die Tiere uns stehen, desto eher sprechen wir ihnen Persönlichkeit zu. Etwa Schimpansen.

Ganz leicht fällt es uns dann bei Unseresgleichen. Ich nehme mich als Person wahr – und unterstelle deshalb Menschen, die mir begegnen, dass sie es auch sind.

Aber wer sagt denn, dass wir das Ende der Entwicklung von Leben sind, schon gar das glorreich gekrönte?

Ich weiß nicht, wohin die Lebensreise auf diesem Planeten geht in den nächsten Abermillionen von Jahren. Vielleicht dominieren eines Tages Oktopusse, die haben jetzt schon 9 Gehirne und zählen zu intelligentesten Lebewesen im Tierreich. Abgesehen davon, dass es irgendwo im All vielleicht auch hochintelligentes Leben gibt. Also lauter Persönlichkeiten.

D.h., es ist vorstellbar, dass es von dem, was wir Person und Persönlichkeit nennen, eine Steigerung gibt.

Und so ist Gott, wie ich ihn verstehe, nicht ein großes ES, sondern die absolute Persönlichkeit. Unserer Person in allem über. Und somit ein großes Du, immer ansprechbar. Gerade weil er so groß ist, dass ich ihn nicht direkt sehen, sondern lediglich wahrnehmen kann, in der Stille eines Gebetes, im Staunen über ein wunderbares Geschöpf wie ein Baum oder eine Hummel, in der tiefen Begegnung mit einem Mitmenschen, und – im Hilferuf eines Notleidenden.

Seid beharrlich im Gebet: Also nicht immer klagen oder bei Gott Bestellungen aufgeben, sondern schlicht in Gottes Gegenwart da sein, auf Du mit seiner Nähe leben – und so von Gegenwart zu Gegenwart am Leben sein.  Das will geübt sein. Wie alles im Leben (richtig – sogar das Atmen muss geübt werden) – aber das schöne ist, etwa im Unterschied zum Geigespielenkönnen: Dafür ist man nie zu alt. Dafür fange ich täglich neu an, es zu üben. Ich stelle mir dann vor, sollte ich einmal richtig alt sein und nichts mehr können als daliegen: Mein wahres Ich in mir ist am Beten, Gott ist gegenwärtig, und tiefer Friede erfüllt mich und ich lebe. Ich in dir – du in mir – wir bin eins. Auch im Sterben.