Ich bin ein Zwilling – vom gläubigen Thomas (Ostermontag 2020)

Ich bin ein Zwilling. Kennen Sie das? Sie haben die gleiche Mutter wie Ihr Bruder oder Ihre Schwester, aber Sie haben nicht den gleichen Platz im Leben Ihrer Eltern. Ständig beschleicht Sie das Gefühl, dass Sie zu kurz kommen, zu spät sind, es nicht richtig machen; nicht geliebt werden, sondern nur geduldet; nicht erste Wahl sind, sondern aus der zweiten Reihe.
Zwilling – das kann man sein, ohne einen leiblichen Zwillingsbruder, eine leibliche Zwillingsschwester zu sein.

Während der oder die andere das Sonntagskind ist, sind Sie ein Montagsmodell. Während der eine leicht durchs Leben kommt, verläuft bei Ihnen nichts rund, stoßen Sie an alle Ecken und Kanten. Während eine andere sich um nichts wirklich einen Kopf macht, machen Sie sich tausend Gedanken. Jemand strahlt, ist sich selbst und der Liebe der anderen sicher, und Sie dagegen stecken voller Zweifel und Fragen und kommen nicht gut an.
Wenn Sie das kennen, dann wissen Sie, wie ich, Thomas, genannt der Zwilling, mich fühle: nicht, wie jemand, den es doppelt gibt, zweimal, sondern wie einer, der die schlechtere Ausgabe ist, eigentlich überflüssig.
Wenn ich sterbe, kräht kein Hahn mehr nach mir, denn es gibt ja noch die anderen Schülerinnen und Schüler Jesu.

Thomas, der Zwilling, wurde ich genannt.
Nomen est omen, sagen die Lateiner. Der Name ist eine Vorbedeutung, und da ist etwas dran. Fragen Sie einmal Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen, die können Ihnen erzählen: von Kindern, die so sind, wie ihre Namen klingen, oder umgekehrt. Mit manchem Namen haben sie einfach einen Ruf weg und kämpfen ständig mit Vorurteilen und gegen Windmühlen oder mit erschreckenden Eigenschaften.
Und nach dem, was der Evangelist Johannes über mich schrieb, bin ich zu meinem zweiten Spitznamen gekommen:
der ungläubige Thomas.

Was habe ich verbrochen? Nichts. Was habe ich gemacht? Ich musste erst die Finger in die Wunden Jesus stecken, um zu glauben, dass der gekreuzigte und gestorbene auferstanden ist. Das denken Sie doch, oder? Und manche Künstler haben genau das mit Pinsel und Farbe auf Bildern festgehalten. Was Sie – nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Sie befinden sich mit vielen anderen Christenmenschen in guter, frommer Gesellschaft – was Sie glauben, haben längst verstorbene Künstler Ihnen in den Kopf gemalt. Haben Sie schon einmal die Geschichte gelesen? Johannes schreibt nichts davon. Es ist wie mit dem Apfel, der in der Geschichte vom Paradies nicht vorkommt, den aber jeder kennt, oder wie mit Gott, der sicher kein alter Mann mit langem Bart ist, aber den wir uns oft so vorstellen, weil Künstler uns dieses Bild gemalt haben. Nun können wir aber nicht nur sehen, sondern auch lesen und hören. Und meine Geschichte hört sich anders an.

Ich kann‘s nicht glauben, dass Jesus auferstanden ist. Klar habe ich das gesagt. Aber mich deshalb zum Ungläubigen abzustempeln, ist unfair. Sie kennen doch uns Orientalen. Wenn wir etwas Trauriges oder Frohes hören, reagieren wir so. Reagieren Sie anders, wenn Sie etwas Unerwartetes hören. Sagen Sie nicht auch: „Ich kann’s nichts glauben!“ oder „Ich glaub es dir nicht!“ Wenn einer, der als verloren galt, wiedergefunden wurde, dann ist Ihr erstes Wort doch auch: „Ich glaub es nicht, du musst dich irren. Es kann nicht wahr sein!“ Das ist aber doch kein Zweifel, sondern pures Erstaunen und Freude im Übermaß. Die Nachricht ist zu schön, um wahr zu sein. Da kommen einem die Tränen. Aus Freude, nicht aus Schmerz.
Stellen Sie sich vor, wie das gewesen ist: In den Garten Gethsemane sind wir mit Jesus gegangen, weil er beten wollte. Schrecklich traurig war er, wir auch. Und die anderen und mich auch hat der Schlaf überrollt. Verdrängung würden die Psychologen heute sagen. Dann kamen mit Fackeln und Schwertern die Soldaten, und er wurde verhaftet. Da bin ich abgehauen und die anderen auch. Ist doch normal: Flucht, die aus dem Selbsterhaltungstrieb entspringt. Verbunden mit Angst und später einem schlechten Gewissen. Auf jedem Fall war alles aus. Und dann wurde er wie ein Verbrecher gekreuzigt und starb. Ende. Da denkt doch keiner an ein happy end.
Und dann erzählen die anderen, sie haben ihn gesehen, er ist auferstanden. Ich glaub’s ja nicht. Hätten Sie da sagen können, was wahr ist oder nicht? Da mag der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sein.

Da kann doch was nicht stimmen. War die Kreuzigung eine Falschmeldung, gefakt? Das will man doch genauer wissen. Also: entweder stimmt an den Erzählungen von der Kreuzigung etwas nicht, oder an denen von seiner Auferweckung. Ich wollte die Wundmale an seinen Händen sehen. Ob ich wirklich meine Hand in die Wunde legen wollte, glaub ich nicht. Aber begreifen wollte ich alles: den Tod wie das Leben. Nicht nur hören, was mir die anderen erzählen, sondern selbst verstehen. Ist das etwa falsch?

Und plötzlich steht er dann wieder vor Ihnen, Jesus, der totgeglaubte und begrabene, kommt durch verschlossene Türen. Und sagt wie immer: „Shalom. Friede sei mit euch!“ Und dann sollten Sie lesen, was Johannes geschrieben hat. Jesus forderte mich auf: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Und ich antwortete: „Mein Herr und mein Gott!“

Kein Wort steht da, ich habe in seinen Wunden gewühlt. Dass haben erst die Künstler der folgenden Jahrhunderte – manche zumindest – so gemalt. Wie den berühmten Apfel, den Sie auf vielen Paradiesbilder sehen können, von dem aber nichts in der Bibel steht.

Was hätten Sie denn gemacht? Platt war ich. Überwältigt, ihn zu sehen. Vielleicht kennen Sie das, plötzlich haben Sie eine Erkenntnis, die haut sie um. Sie hören ein Wort, das alles verändert. Sie treffen auf einen Menschen, oder hören ein Musikstück, und plötzlich verändert sich Ihre Lebensperspektive, so als habe jemand in ihnen einen Schalter umgelegt. Tausend Lampen gehen gleichzeitig auf. Ich konnte nur erkennen und dann bekennen: „Mein Herr und mein Gott“ Und Jesus sagte: „Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“

Dass man mich zum „Zwilling“ gemacht hat, fast zum Gegenbild eines Glaubenden, kränkt mich. Aber noch ärgerlicher finde ich, dass Ihr späteren Generationen mich für einen „ungläubigen Thomas“ haltet und andere damit abstempelt.

Also: ich bin nicht der grundsätzliche Zweifler und Skeptiker. Aber ich will meine sieben Sinne nutzen, habe Herz und Verstand. Seit wann muss denn der Glaube den Zweifel fürchten? Was wir fürchten müssen, sind Selbstgerechtigkeit und Erstarrung. Bei aller Verunsicherung: Ich zweifle nicht an einem, der sagt, er hat Angst. Aber ich habe Angst vor dem oder denen, die sagen, sie kennen keinen Zweifel. Wenn ich mir selbst und anderen Zweifel eingestehe, unbequeme Fragen zu stellen und zuzulassen, geht die Welt nicht unter, wird vielleicht nur das Meer etwas aufgewühlt. Mehr aber nicht. Das Boot des Lebens wird dennoch getragen von den Wogen.

Wenn ich so bei Johannes die Geschichte lese, stehe ich doch gar nicht so dumm da. Zu guter Letzt bekommt meine Rolle einen ganz anderen Klang. Ich werde zu einem Bekenner. Ich glaube. Als hätte ich das vorher nicht getan. Ich war doch immer dabei. Gehörte zu den ersten Freunden Jesu. Aber selbst wenn es nicht so wäre, wenn ich wie Saulus zu einem Paulus geworden wäre. Stellen Sie sich das einmal vor, Sie kündigen Ihrem alten Selbst die Treue, Sie verwandeln sich grundlegend, Sie streifen Ihr altes Ego, Ihren alten Charakter ab. Nun sind Sie nicht nur ganz anders, sondern gerade wie umgedreht, Sie wechseln die Seite, die Perspektive und Ihre ganze Lebensart.

Ich persönlich beneide Sie nicht. Ich habe ihn gesehen, Sie haben nur die Worte und vielleicht den einen oder anderen Lichtblick, der in Ihr Leben einbricht. Dass Jesus Ihnen begegnet, wünsche ich Ihnen, auf die eine oder andere Weise. Viele Ostererfahrungen. Dass Sie glauben und lieben und hoffen. Dass Sie nicht vorschnell urteilen und abstempeln, sondern suchen und fragen. Dass Sie über Schweres und Dunkles hinauskommen, weil Jesu Geist Sie befreit, so dass Sie getragen und beflügelt auf einen guten Weg kommen, nicht nur alleine, sondern mit vielen anderen zusammen. Dass Sie sagen können, was ein unbekannter meiner jüdischen Glaubensgenossen sogar im Warschauer Ghetto entdeckte: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre. Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.“

Johannes lässt meine Geschichte mit den Worten enden: „Noch viele andere Zeichen tat Jesu vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.“ So als wollte er sagen, wenn ihr euch umhört und umschaut, entdeckt ihr noch viel mehr. Sogar heute. „Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ Da gibt es nichts mehr zu sagen, außer: So sei es.

Und darum bin ich ein wenig später losgezogen und habe schließlich sogar in Indien Gemeinden gegründet. Die Thomaschristen. Wie ich – alles andere als ungläubig.
Amen.